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Kopf oder Zahl?

Über Wachstum und Schrumpfung in Chemnitz

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Der Kopf sagt: Chemnitz ist auf dem Weg nach oben. Die Einwohnerzahl wird steigen. Daumen hoch, die Zeichen stehen auf Wachstum. Die Zahlen sagen: Chemnitz schrumpft. Langfristig geht es abwärts. Lässt man sich von Zahlen verrückt machen oder vertraut man den Köpfen?

Willkommen in Schrumpfhausen. So etwas hätte man noch vor 10 Jahren an das Chemnitzer Ortseingangsschild nageln können, zumindest wenn man den Demoskopen Glauben geschenkt hätte. Um 2050 herum sollte sogar die 200.000 Marke unterschritten werden. Doch nun ist alles anders.

In einer im November letzten Jahres vom städtischen Finanzbürgermeister Sven Schulze veröffentlichten Vorausberechnung wird Chemnitz in 13 Jahren 262.200 Einwohner haben. Das sind fast 16.000 mehr als jetzt. Er gibt zu, dass das die optimistischste Annahme sei, aber selbst wenn man vorsichtiger schätzen würde, wäre die Einwohnerzahl im Jahr 2030 wohl mindestens bei 249.000. Auch mehr als jetzt. Die Folge: Die Stadtverwaltung muss investieren. Optimistisch plant die Stadtverwaltung den Bau neuer Kitas und Schulen, konzipiert neue Wohnquartiere in der Innenstadt, baut Schwimmhallen, Stadien und neue Straßenbahnlinien. Auch die großen Wohnungsvermieter sanieren ihre Bestände und bauen neue Mietshäuser. Abriss war gestern, heute wird wieder gebaut.

Ganz anders sieht es das Statistische Landesamt in Kamenz. Dort wird hochoffiziell das Zahlenmaterial für Sachsens Zukunftsplanung erarbeitet. Wenn die Kamenzer Sozialforscher ihre guten Tage haben, sehen sie in Chemnitz 2030 gerade mal 236.000 Menschen herumlaufen, an schlechten Tagen errechnen sie sogar nur 230.000. Das sind 32.000 Menschen weniger als die Stadtstudie annimmt. Wer verrechnet sich hier? Oder haut sich die Stadt selbst die Taschen voll?

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Wahrheit und Wahrscheinlichkeit

Nun ist die Demoskopie keine Alchemie, quantitative Sozialforschung ist vor allem Handwerk, das noch dazu meist von schlauer Software abgewickelt wird. Zwei Faktoren dienen im Wesentlichen als Grundlage. Zum einen die biologische Bevölkerungsbewegung, das heißt, wie viele Menschen werden geboren, wie viele sterben im gleichen Zeitraum. Zum anderen das Wanderungssaldo, also wie viele ziehen weg, wie viele ziehen her. Beide Faktoren liefen für Chemnitz viele Jahre sehr schlecht. Wenig Geburten, viele alte Menschen und damit auch eine hohe Sterberate, mehr Wegzug als Zuzug. Doch dann kam die Trendwende: Seit 2009 wächst Chemnitz, allen Prognosen zum Trotz. Schon damals sahen die Kamenzer einen stetigen Schwund voraus, ein Anstieg war überhaupt nicht eingerechnet. Für dieses Wachstum sind bei genauer Betrachtung drei Aspekte entscheidend. Erstens der Geburtenboom. Zweitens die Zuwanderung aufgrund wachsender Studierendenzahlen an der TU (und hier speziell die Zuwanderung von ausländischen Student*innen). Und drittens der Anstieg von Asylsuchenden. Letzter Punkt sorgte 2015 für die höchste Einwohnerzahl seit 2003.

Die Wahrheit aber ist: Der Geburtenboom war nur ein temporäres Phänomen, unaufhaltsam tickt die biologische Uhr und wir nähern uns dem tiefen Demographie-Loch der 90er und 0er Jahre. Die Folge: Die Zahl der Frauen im heute angesagten Gebäralter von 26 bis 40 liegt aktuell bei 22976. Die Nachfolgegeneration, also die der 11 bis 25-Jährigen Frauen und Mädchen, ist satte 9000 Personen kleiner. Das sind ganz real 9000 Frauen, die in den nächsten 15 Jahren keine Kinder zur Welt bringen werden.

Zwei kleine Hoffnungsschimmer gibt es, um das Geburt-Tod-Verhältnis etwas besser aussehen zu lassen. Der eine ist der verhaltene Trend zum zweiten, dritten oder gar vierten Kind. Chemnitz liegt mit einer Fertilisationsrate von 1,5 Kinder pro Frau auf Platz zwei aller deutschen Großstädte! Wenn also die vorhandenen Frauen die Kinder auch für die nicht vorhandenen kriegen - Bingo. Aber noch etwas leuchtet am Zukunftshorizont: Der medizinische Fortschritt. Wir sterben einfach immer später. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die heute 50-Jährigen auch in 40 Jahren noch durch die Stadt zombiieren werden. Fazit: Die Zahlen zur aktuellen Biomasse sagen klar, dass Chemnitz nicht aus sich selbst heraus wachsen wird. Außer die statistischen Wahrscheinlichkeiten lösen sich in der Petrischale futuristischer Wahrheiten auf.

Der Zuzug-Zug

So positiv man aber auch denken will: Ein organisches Wachstum ist ausgeschlossen. Unabwendbar werden in Chemnitz mehr Menschen sterben als geboren. Durchschnittlich sterben etwa 1000 Menschen mehr als Neugeborene hinzukommen. Zwangsläufig muss also die Bevölkerungszahl sinken. Aber: Dieses Missverhältnis gibt es schon seit den 1950ern und nicht nur in Chemnitz. Trotzdem ist die Stadt bis zum Wendejahr 1990 auf über 300.000 Einwohner gewachsen. Zuzug von außen war also schon immer der Wachstumsmotor.

Optimisten sagen, Chemnitz wird als Oberzentrum mehr und mehr Leute aus dem Umland in die Stadt ziehen. Die mehreren Zehntausend Pendler, die täglich aus den Gürtel-Gemeinden ins Stadtgebiet rollen, müssen von der Lebensqualität vor Ort überzeugt werden und dann bei der GGG anrufen. Optimisten sagen auch, unsere Uni sei so cool und toll, dass Studenten und Studentinnen zu Startupern gezüchtet werden und dann Chemnitz zum neuen Wohnort machen. Dazu behaupten sie, dass die Abwanderung junger Chemnitzer und Chemnitzerinnen weitgehend gestoppt sei. Aber Optimisten verachten ja bekanntlich die Wahrheit.

Die Hoffnung, dass sich die Geburtendelle mit einem Zuzug aus dem Umland füllt, ist mehr als vage – denn noch stärker als die Stadt Chemnitz hat deren Umland mit den geburtenschwachen Jahrgängen zu kämpfen. Ergo: So viele sind da gar nicht, die herziehen könnten. Trotzdem ist die Gruppe der im Umkreis von 30-40 Kilometern lebenden Menschen das heißeste Klientel. Vielleicht sind es nicht mehr so wahnsinnig viele, aber ein paar Tausend könnte man hier schon festnageln. Darüber hinaus bedarf es einer ziemlich rockigen Familienpolitik, die attraktive Kita- und Schulangebote genauso einschließt wie coole Jobs und urbane Lebensqualität (Hashtags: Kultur, Umwelt, Wohnen, Mobilität, Wlan). Und auch der Zuzug von Senioren darf kein Tabu sein. Alten Menschen, die in den mittlerweile infrastrukturlosen Dörfern zurückgelassen wurden, könnte in Chemnitz ein netter Lebensabend mit Lust und Lidl angeboten werden. Das ist umso wichtiger, da ganz bald schon eine kleine Bevölkerungskatastrophe droht.

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Schrumpf-Uni und das Sachsen-Problem
Unsere schöne Uni muss in den nächsten Jahren 2000 Studierende einsparen. Nur für etwa 9000 Studienplätze will das Land Sachsen noch bezahlen. Die werden zwangsläufig fehlen - ganz kurzfristig schon in der Statistik, womit die Stadt auch feelingmäßig wieder ins Minus rutschen könnte, und langfristig als Hierbleiber, Hängenbleiber, Familiengründer und Jobschaffer. Sad!

Bleibt noch der Zuzug von ganz weit her: Migration aus dem Ausland. Das ist die große Unbekannte im Leben dieser Großstadt. Werden in Zukunft Menschen aus anderen Ländern den Weg zu uns finden? Nach Ostdeutschland, nach Sachsen, nach Chemnitz? Am besten ohne den bitteren Hintergrund weltweiter Krisen und Katastrophen? In Sachen Willkommenskultur ist Chemnitz wohl besser als der ostdeutsche Ruf, trotzdem steht man hier beim unverkrampften Umgang mit Ausländer*innen noch ganz am Anfang. (P.S.: Ist Chemnitz ein rassistisches Kacknest? Wer sich manche Kommentare auf Facebookseite von Tag24, dem Portal der Chemnitzer Morgenpost anschaut, wird schnell davon überzeugt sein.) Aber last but not east: Wenn diese Stadt eine Zukunft haben will, muss diese mehrsprachig sein.

Think Positive!
Woher kommt also nun die unterschiedliche Berechnung der zukünftigen Bevölkerungszahl. „Welche Annahmen letztendlich aus Sicht des Freistaates für die zukünftige Entwicklung der demografischen Komponenten für die Stadt Chemnitz getroffen wurden und warum, ist im Detail nicht bekannt. Auch die früheren Prognosen des Statistischen Landesamtes haben grundsätzlich unter den stadteigenen Vorausberechnungen gelegen,“ heißt es aus der Stadtverwaltung. Die Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig hält fest: „Wir wollten, dass die in der Vergangenheit herausgegebenen negativen Vorhersagen des Statistischen Landesamtes nicht eintreffen. Das ist gelungen!“ Aus dieser Sicht heraus kann man die Stadtstudie auch als eine Art Sich-selbst-erfüllende-Prophezeiung deuten. Wenn wir nur ganz fest daran glauben, wird es auch eintreten. Zumindest in den letzten fünf Jahren hat das funktioniert.

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Text: Lars Neuenfeld
Headerbild:[nbsp]original_R_K_B_by_S. Hofschlaeger_pixelio.de

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