⚠ Diese Webseite wurde nicht für Internet Explorer 11 optimiert. Wir empfehlen Mozilla Firefox , Microsoft Edge oder Google Chrome.

Das Web-App-Mag
Immer auf Tasche

Magazin

Euphorie und Europa

Chemnitz ist auf dem Weg

Veröffentlicht am:

„Europa traut uns das zu.“ Selbst bei der Oberbürgermeisterin schwingt in diesen Worten etwas Ungläubiges mit. Tatsächlich. Die meinen das ernst. Die nehmen uns ernst. Chemnitz hat es geschafft. Zweite Runde. Endlich was gewonnen. Aber eigentlich ist gar nichts gewonnen, denn das Ausfüllen des KuHa-Fragebogens und das Formulieren netter Ideen war bestenfalls die Pflicht. Nun beginnt beginnt die Kür.

Die Timeline ist hart: Schon Ende Mai soll das neue Bidbook inhaltlich stehen, im Juli ist Abgabetermin. Im September folgt dann der Besuch der Jury in Chemnitz und im November wird die endgültige Entscheidung bekanntgegeben. Das zweite Bidbook muss 100 Seiten dick sein und aus den netten Ideen einen konkreten Spielplan für 2025 formulieren. Wie der Chemnitzer Delegation mitgeteilt wurde, war für das erfolgreiche Weiterkommen zu 50 % das Bidbook entscheidend und zu 50 % die Präsentation am Tag vor der Bekanntgabe der Entscheidung. Am Ende der zweiten Runde wird wiederum zu 50 % das Bidbook zählen, den anderen wichtigen Part bildet tatsächlich der Jurybesuch im September 2020. Ludwig kennt den Ablauf eines solchen Besuches aus eigener Erfahrung. In ihrer Amtszeit als Sächsische Ministerin für Wissenschaft und Kunst (2004 bis 2006) begleitete sie eine solche Jury durch Görlitz. Die Stadt hatte sich für den Kulturhauptstadt-Titel 2010 beworben, war in der Schlussauswahl aber Essen unterlegen. Auch wenn es damals schief ging – die Erfahrung um das Prozedere wird Gold wert sein. Die Jurymitglieder werden sich innerhalb einer geführten Tour Orte anschauen, die im Bidbook als Schauplätze für 2025 genannt werden.

Wahrscheinlich werden die Entscheider*innen, ein international besetztes Gremium, welches interessanterweise zu Zweidrittel mit Frauen besetzt ist, diesen vorbereiteten Stadtexkurs aber unangekündigt verlassen und Bürger*innen spontan ansprechen. Ludwig hofft, dass die Angesprochenen positiv über ihre Stadt und deren ambitioniertes Kulturhauptstadtziel sprechen.

Damit skizziert sie eines der größten Problem am bisherigen Bewerbungsprozess: Das Chemnitztypische Rumgemaule, von wegen Steuergeldverschwendung und Chemnitz sei gar keine Kultur- sondern eine Industriestadt. Die Gegner der Kulturhauptstadt-Idee in Form von AFD und Pro Chemnitz halten im Stadtrat nun fast ein Drittel der Stimmen. Ob sie damit auch die Stimmen der Bürgerschaft in diesem Umfang bei genau diesem Thema widerspiegeln, werden die nächsten Monate zeigen. Gegner wird es immer geben, aber wenn es tatsächlich so viele wären, wird eine erfolgreiche Bewerbung schwer. So wird wohl ein nicht unwesentlicher Teil des KuHa-Budgets dafür ausgegeben werden müssen, alle Chemnitzer und Chemnitzerinnen von dieser Idee zu überzeugen.

Interessant: Ob Barbara Ludwig diesen Jurybesuch noch als Oberbürgermeisterin durchführen kann, ist ungewiss. Am 12. September 2020 endet ihre Amtszeit. Für die Chemnitzer Bewerbung jedoch hält sie diesen Fakt für positiv: „Da ich nicht erneut kandidiere, habe ich jetzt Zeit. Ich muss keinen Wahlkampf machen und kann mich voll auf die Kulturhauptstadtbewerbung konzentrieren.“ Aus diesem Grund habe sie auch schon einige Aufsichtsratsposten an ihre Bürgermeister abgegeben.

Neben einem schlüssigen Gesamtspielplan muss im Juli auch ein Finanzplan für die Zeit 2021 bis 2025 abgegeben werden. Basis dieser Planung werden Zuschüsse von Bund und Land sein, die, wie Ludwig betont, in dieser Größenordnung noch nie nach Chemnitz geflossen sind. Sie hofft auf bis zu 30 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt. Bei den Landesmitteln geht sie von weiteren 20 Millionen Euro aus. Chemnitz selbst plant ebenfalls 30 Millionen Euro Ausgaben ein. „Gut die Hälfte der Stadtmittel wird aber auch so ausgeben.“

Apropos Geld: Schon für 2020 ergießt sich ein kleiner aber angenehmer Geldregen auf die Stadt. Zu den 350.000 Euro, die Chemnitz für den nun eingetretenen Erfolgsfall bereits einkalkuliert hat, fließen weitere 600.000 Euro aus Landesmitteln. Diese sind einerseits für die Erstellung des Bewerbungsbuches gedacht, was in Anbetracht der nur fünf Monate Bearbeitungszeit u.a. in zusätzliche Personalressourcen fließen wird. Andererseits bietet diese Summe auch Möglichkeiten, 2020 glänzen zu lassen. Auf die Frage, ob man 2020 nochmal besonders viel gucken lassen muss, ein Feuerwerk zünden soll, das Bürger*innen und Jury gleichermaßen von den Chemnitzer Fähigkeiten überzeugt, antwortet sie mit einem „Unbedingt“.

Unbedingt ausbaufähig in der Chemnitzer Bewerbung ist vor allem die „europäische Dimension“, also was kann Chemnitz über Europa erzählen, wie sollen Vernetzungen konkret aussehen und wie positioniert sich die Stadt innerhalb der europäischen Idee. Eine wichtige Rolle bei der Umsetzung dieser Dimension im Bidbook kommt dabei sicher dem Kulturbetriebsleiter Ferenc Czák zu, den die Oberbürgermeisterin als „großen Strategen“ bezeichnet. Der oft still und zurückhaltend wirkende Ungar hat in seinem Heimatland einst Pécs zur europäischen Kulturhauptstadt gemacht, nun bringt er sein Wissen darüber in die Chemnitzer Bewerbung ein. Er war es, der die starke Kooperation mit den Städten und Gemeinden in der Region auf dem Weg brachte und damit einen Aspekt fest ins Bidbook schreiben konnte, wo bei den Mitbewerbern noch Absichtserklärungen standen.

Ihm und dem KuHa-Team sollte man also durchaus zutrauen, den europäischen Gedanken ins Bidbook zu bringen, als hätte Chemnitz nie an etwas anderes gedacht. Immerhin formulierte Barbara Ludwig schon wenige Minuten nach der Shortlist-Entscheidung ganz europäisch weit blickend: „Nicht der Vergleich mit größeren Städten in Sachsen bringt uns voran. Unser Blick geht jetzt nach Marseille, nach Plovdiv, nach Pilsen, nach Galway, nach Aarhus, nach Liverpool, nach Linz, nach Wroclaw … Weil Chemnitz das Zeug dazu hat, eine europäische Stadt zu sein. Und dafür werden wir nun weiter hart arbeiten. Wenn wir uns gemeinsam darauf einlassen, groß zu denken, scheinbar Unmögliches anzupacken, hat Chemnitz die Chance, Gewinnerin in vielfachem Sinne zu werden.“ Das ist also das neue Chemnitzer Selbstbewusstsein. Und wenn es am Ende nicht klappt – he, wir haben immerhin Dresden geschlagen!

Text: Lars Neuenfeld

Zurück