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Liebe in Zeiten des Schweigens

Prostitution auf dem Chemnitzer Sonnenberg

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875 Jahre Chemnitz bedeutet auch 875 Jahre Prostitution in dieser Stadt. Naja, vielleicht nicht ganz – aber das Huren, Freier, Callboys und Escortmädchen zur Stadtgeschichte gehören, ist unzweifelhaft. Trotzdem ist es erstaunlich, dass das heikle Thema Bestandteil des offiziellen Festprogramms wurde. Wie es dazu kam, erzählten uns Esther Gerstenberg und Christian Feister.

Rückblende: Am 29. Oktober 2016 geschieht ein grausamer Mord in der Zietenstraße 7. Die Prostituierte Noémi M. (25) wird von einem 19-jährigen Zuhälter brutal niedergestochen. Noémi M. hatte in einem Wohnungsbordell gearbeitet, der Zuhälter lebte in der Nachbarwohnung mit einer weiteren Prostituierten zusammen. Der Mord, die spätere Festnahme des Täters sowie die Prozesseröffnung sorgten kurzzeitig für Schlagzeilen in den lokalen Medien. Doch sonst herrscht Schweigen. Prostitution und die damit verbundene Welt sind Tabu-Themen.

„Wer hier lebt, wird automatisch mit Prostitution konfrontiert.“

Für Esther Gerstenberg war dieses Schweigen unerträglich. „Mich hat der Mord an Noémi total mitgenommen“, gesteht sie. Die Architektin wohnt auf dem Sonnenberg, ihr Arbeitsplatz befindet sich direkt gegenüber dem Mord-Haus. Als kurze Zeit später im Rahmen der 875-Jahr-Feier ihr Stadtteil dem Themenraum „Liebe“ zugeteilt wird, findet sie das zunächst eine irrige Idee, beginnt aber bald mit Freunden und Freundinnen eine Idee zu spinnen, die das heikle Thema Prostitution in den Mittelpunkt rückt. Gleichgesinnte findet sie mit der Grafikerin Mandy Knospe von der Galerie Hinten, dem Lokomov-Booker Thoralf Fröhlich und dem Komplex-Mitbetreiber Christian Feister. Später stoßen weitere Akteure dazu. Fast alle wohnen auf dem Sonnenberg. Gemeinsam entwickeln sie ein Projekt, das das Thema mit künstlerischen Mitteln bearbeiten soll. Unter dem Titel „You Want Love - So Give Me Money“ reichen sie das Projekt zur Förderung ein. Zur eigenen Überraschung geht die Idee „reibungslos“ durch und wird finanziell unterstützt.

„Wer hier lebt, wird automatisch mit Prostitution konfrontiert und dies nicht erst seit dem Mord“, verdeutlicht Christian Feister die Beweggründe der Gruppe. Er beschreibt, dass es an der südlichen Zietenstraße zahlreiche Wohnungsbordelle gibt. „Teilweise sind sie schwer zu erkennen, teils auffällig mit LED-Herzchen und „Rund um die Uhr Verfügbarkeit“ in den Fenstern beworben.“ Esther Gerstenberg schildert, dass man täglich Frauen, ab und an auch Männer, sieht, die offensichtlich als Prostituierte arbeiten. „Manchmal sind seltsame Männergruppen unterwegs, nachts kommen Busse, Frauen steigen ein und aus. Oder es steht schon mal ein Zuhälter mit einer Axt vor einem Haus, um jemanden zur Arbeit abzuholen. Als Bewohnerin ist das Lebensrealität, eine Parallelwelt, in die ich keinen Einblick habe. Aber irgendwie muss ich ja damit umgehen.“

Gerstenberg beginnt zu recherchieren. Ihr Ziel ist die Organisation von Veranstaltungen, in welchen die Lebenssituation von Prostituierten aus verschiedenen Aspekten besprochen wird. Doch die Recherchen gestalten sich schwierig, auch weil die Frauen nur wenige Wochen da sind, dann kommen neue. Viele stammen aus Bulgarien, Rumänien, Ungarn oder Tschechien. Offizielle Zahlen, wie viele Menschen in Chemnitz mit Sexarbeit ihr Geld verdienen, gibt es nicht.

Ein weiterer, erschwerender Aspekt war, dass mitten in die Vorbereitungen der Startschuss zum so genannten tl_files/371/images/Magazin/2018/April 2018/redaktion/Esther_Kriese_1.jpgProstitutionsschutzgesetz fiel. Es trat zum 1. Januar 2018 in Kraft. „Bis zum Jahresanfang 2018 war die Zietenstraße ein Hotspot, doch mittlerweile habe ich den Eindruck, dass diese Szene weiter wandert. Auf dem Sonnenberg Richtung Lessingplatz und Markusstraße, aber auch Richtung Lohrstraße am Brühl.“ Mit diesem Gesetz trat das eigentliche Dilemma in der Auseinandersetzung mit dem Thema Prostitution erneut zu Tage. Sexarbeiter*innen müssen sich von nun an registrieren lassen, einen verpflichtenden Gesundheitscheck absolvieren und erhalten danach einen „Prostituiertenausweis“. Da aber der konkrete Vollzug des Gesetzes in vielen Bundesländern, so auch in Sachsen, noch nicht geregelt ist, gibt es aktuell eine große Unsicherheit, die nach Gerstenbergs (Foto) Einschätzung zu einem Anstieg der illegalen Prostitution führen kann.

Der Berliner Hurenverband Hydra e.V., bundesweit die wohl lauteste und einflussreichste Interessenvertretung von Sexarbeiter*innen, lehnt das neue Gesetz ab. Das Prostitutionsschutzgesetz wird ihrer Ansicht nach „zu einer weiteren Stigmatisierung führen, Sexarbeit unsicherer machen und teilweise illegalisieren sowie die Hürden für berufliche Neuorientierung erhöhen.“ Sie stoßen sich prinzipiell daran, dass Sexarbeit nicht als Beruf wie jeder andere angesehen wird. Hydra erkennt im Prostitutionsschutzgesetz „eine weitere Sonderregelung, die die gesellschaftliche Doppelmoral nicht auflöst, sondern verstärkt.“

„Heute weiß ich, dass ich mir eigentlich keine abschließende, eindeutige Meinung anmaßen will.“

Auf der anderen Seite stehen Menschen, die Prostitution generell ablehnen. Für sie verletzt es ein elementares Menschenrecht, seinen Körper verkaufen zu müssen. Dabei sind es nach Ansicht der meisten Aktivist*innen nicht die Prostituierten, die dieses Menschenrecht verletzen, sondern die Freier, die sich der „Ware“ bedienen. Die Hure aus Leidenschaft halten sie für ein modernes Märchen. Diese beiden Pole stehen sich unvereinbar gegenüber, teilweise so stark, dass sich Vertreter*innen nicht in ein gemeinsames Podium einladen lassen. Für Esther Gerstenberg ein schwieriges Unterfangen, das auch ihre eigene Sichtweise auf Sexarbeit immer wieder veränderte. „Am Anfang dachte ich, dass ich eine sehr feste, klare Meinung zu Prostitution habe. Für mich war sie zum allergrößten Teil von Gewalt, Zwang und Opfersein bestimmt. Bekämpfen lässt sich das nur, wie in Schweden, mit einem Verbot von Prostitution bzw. Freiertum. Doch je mehr ich mich damit beschäftigte, desto unklarer wurde mein eigener Standpunkt. Heute weiß ich, dass ich mir eigentlich keine abschließende, eindeutige Meinung anmaßen will.“

Aus diesem Grund steht in der Podiumsdiskussion (Termin 25. April) nun auch das Prostituiertenschutzgesetz und die Lebensrealität von Sexarbeiter*innen vor Ort im Mittelpunkt des Gesprächs. Esther Gerstenbergs Mitstreiter*innen nähern sich wiederum von ganz anderen, höchst unterschiedlichen Positionen der Thematik. In Daniel Hellmanns Tanztheaterstück „Traumboy“ geht es z.B.[nbsp] um einen jungen Mann, der sich gern prostituiert. In der Solo-Performance berichtet er von seinen Erfahrungen als Prostituierter. Christian Feister recherchierte derweil im Stadtarchiv, um Historisches zum Thema Prostitution in Chemnitz zu entdecken. Der Prager Regisseur Jakub Čermák erarbeitet das partizipative Theaterstück „Bordell L‘Amour“, bei dem er mitten im Rotlichviertel Zietenstraße „die Tore zu einem Lusthaus öffnet, in dem kein Sex, sondern reine Liebe verkauft wird“ (Siehe Seite 9). Kathrin Tschirner hält den Gegebenheiten rund um die Wohnungsbordelle auf dem Sonnenberg fotografisch fest und wird die Ergebnisse in einer Ausstellung präsentieren. Ein Film und eine Lesung mit Clemens Meyer, dem vielleicht besten deutschsprachigen Autor seiner Generation, runden das Programm „You Want Love - So Give Me Money“ ab. Es verspricht, ein spannendes Schlaglicht auf ein Thema zu werfen, das jeder kennt, über das aber keiner redet. Zumindest zwischen dem 19. und dem 28. April wird dieses Schweigen gebrochen.

Gesamtes Programm hier im 371 oder unter www.chemnitzkomplex.de

Update 09.04.18: In einer früheren Version des Textes, die auch in der Druckausgabe des 371 veröffentlicht wurde, hieß es, dass sich die Zusammenarbeit mit dem Chemnitzer Ordnungsamt als schwierig darstellte und die Entsendung eines Gesprächspartner für die Podiumsdiskussion abgelehnt wurde. Mittlerweile ist dies nicht mehr der Fall. Zur Podiumsdiskusssion am 25.04. wird eine Vertreterin des Ordnungsamtes anwesend sein.

Text: Lars Neuenfeld Foto: Henriette Kriese

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