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Vom Typ her Nordafrikaner

Eine Täterbeschreibung mit Folgen

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Die Chemnitzer Polizei veröffentlicht eine Täterbeschreibung, dutzende Medien übernehmen diese. Ist das jetzt Rassismus oder notwendige Information?

Zur Chronologie der Ereignisse: Am Abend des 3. August geschieht ein furchtbares Verbrechen. Auf einem Chemnitzer Spielplatz wird ein 7-jähriges Mädchen missbraucht. Schon kurze Zeit später beginnt die polizeiliche Ermittlungsarbeit, am Morgen des 4. August veröffentlicht die Chemnitzer Polizei eine Pressemitteilung samt Täterbeschreibung. Diese enthält neben Kleidung und Handyfarbe den Hinweis auf eine Narbe auf der linken Wange sowie die Formulierung „soll vom Typ her Nordafrikaner gewesen sein.“ Schon am gleichen Tag veröffentlichen die Chemnitzer Onlinemedien (Mopo24.de, Freiepresse.de, bild.de, sachsen-fernsehen.de, radiochemnitz.de, usw.) diese Täterbeschreibung gleichlautend. Am Nachmittag wird in der MDR-Fernsehsendung „MDR um 2“ das Verbrechen ebenfalls aufgegriffen. Im Beitrag ist die Chemnitzer Polizeisprecherin Heidi Hennig zu sehen. Neben der zur Polizeipresseinfo wortlautgleichen Beschreibung hinsichtlich Kleidung, Handy und Narbe sagt sie „das Mädchen sprach von einem südländischen bzw. nordafrikanischen Typ.“

Am folgenden Tag gehen die drei Chemnitzer Tageszeitungen mit umfangreichen Berichterstattungen in ihren Printausgaben. Begleitet werden die Berichte mit verlinkten Facebook-Posts. Lediglich der MDR verzichtet in seinen Onlinemedien auf den Halbsatz „soll vom Typ her Nordafrikaner gewesen sein.“

Am 6. August 10:15 Uhr geht die Chemnitzer Polizei mit der Meldung in die Öffentlichkeit, in der Nacht zuvor einen Tatverdächtigen festgenommen zu haben. Diese Medieninformation enthält zunächst keine weiteren Hinweise zum Festgenommenen, die Chemnitzer Medien berichten aber schon wenige Minuten später inklusive detaillierter Beschreibungen zu Alter, Nationalität und Aufenthaltsstatus der Person. Die Chemnitzer Polizei erklärt gegenüber 371 dazu, dass diese Informationen auf Nachfrage eben jener Medienvertreter herausgegeben wurden, auch weil bereits in den „sozialen Medien darüber umfangreich kommuniziert wurde.“ Außerdem müsse man ja bei der Wahrheit bleiben, so Polizeisprecherin Jana Kindt. Die Chemnitzer Morgenpost nennt darüber hinaus den Wohnort des Verdächtigen und veröffentlicht ein Foto des Hauses. In diesem Haus leben etwa 400 Menschen. Auch in diesen Fällen wird die Reichweite der Meldung über die angeschlossenen Social-Media-Kanäle multipliziert.

Um 16:00 Uhr desselben Tages gibt die Polizei bekannt, dass der Festgenommene nicht als Täter in Frage kommt. Zeugen inklusive dem Opfer entlasteten ihn eindeutig. Eilig werden die Presseartikel aktualisiert, die detaillierte Beschreibung des nunmehr Unschuldigen wird aber beibehalten, selbst in der am 7. August erscheinenden Printausgabe der Morgenpost wird auf die Abbildung des Wohnhauses des Mannes nicht verzichtet. Am 9. August legt die Morgenpost bisher ein letztes Mal nach, diesmal verkürzt sie die Täterbeschreibung auf „Nordafrikaner“.


Niemand hinterfragt, welchen Belastbarkeit die Polizei-Formulierung

„soll vom Typ her Nordafrikaner gewesen sein“ tatsächlich hat.

Hass und Hetze
Dass eine Täterbeschreibung dank der viralen Wirkung des Internet heute blitzschnell in jede Ecke der Welt getragen werden kann, ist zweifellos eine wunderbare Errungenschaft. Wie gefährlich es aber ist, wenn diese Täterbeschreibung ungenau und missverständlich ist, zeigt dieser Fall. Die Onlinemeldungen der Polizei und Chemnitzer Medien hatten eine enorme virale Strahlkraft. Allein der erste Morgenpostartikel wurde bisher über 120.000 Mal geklickt, dass entspricht etwa dem 100-fachen eines normalen Mopo24-Artikels. Auch bei den anderen Medien dürfte die Meldung für jede Menge Traffic gesorgt haben. Dass die oben beschriebenen Artikel zusammengenommen wohl über eine halbe Million Klicks erreicht haben dürften, ist eine vorsichtige Schätzung. Aber nicht nur das: Viele Onlinemedien der neurechten Wir-gegen-Lügenpresse-Fraktion wittern hier ein gefundenes Fressen. Selbstredend wird aus dem „nordafrikanischen Typ“ hier ganz einfach ein Nordafrikaner, ein Ausländer, ein Asylant, ein Sozialstaat-Schmarotzer oder um nicht allzu viel denken zu müssen: ein N....

Was in diesen Medien oft noch polemisch zur Diskussion gestellt wird, findet in den Kommentarspalten seinen Ausbruch in offenem Hass. Der Mob tobt, hundertfach, tausendfach, fordert die Todesstrafe, will es am bestens gleich selbst erledigen und kennt in Beschimpfungen von Menschen anderer Nationalitäten keine Grenze. Empathie für das Opfer des eigentlichen Verbrechens, ein 7-jähriges Mädchen, verkommt zur Folie für offenen Rassismus. Diese Flut ergießt sich nicht nur in den Kommentarspalten jener zweifelhaften Medien, sondern eben auch bei den hiesigen Presseorganen. tl_files/371/images/Magazin/2015/September 2015/redaktion/npd_klein.jpg

Der Link mit dem „Nordafrikaner in Chemnitz“ findet sich zudem in zahlreichen Diskussionforen – z.B. zum tagesschau-Kommentar von Anja Reschke: Seht her, die Gutmenschen spinnen, die Ausländer sind eben doch alles Verbrecher. Und wie Reschke in ihrem Kommentar schon feststellte – von der hasserfüllten Rede über den Handlungsaufruf hin zur Tat ist es nicht so weit, gerade wenn es um ein so drastisches und emotional starkes Thema wie Kindesmissbrauch geht. Wer will ausschließen, dass, wenn die Meldung von der Unschuld des Verhafteten nicht noch vor Einbruch der Dunkelheit gekommen wäre, sich nicht ein rassistischer Mob vor dessen Wohnhaus, eine Flüchtlingsunterkunft, gebildet hätte? Wer will das ausschließen, in Anbetracht von den Geschehnisse in Freital, Heidenau und vielen anderen ostdeutschen Städten?

Immerhin waren die Einflüsterer jener Bewegung auch in Chemnitz schnell am Tatort. Noch am Abend es 4. August veranstaltet die rechte Gruppierung Pro-Chemnitz eine Mahnwache am Spielplatz im Park der OdF, am 8. August folgt eine ähnliche Veranstaltung, bei der sogar die Dresdner Pegida-Prominenz samt Lutz Bachmann Reden schwingt.

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Quelle: Facebook

Pro-Chemnitz-Fraktionschef Martin Kohlmann, immerhin Rechtsanwalt, verbreitet via Facebook schon am 4. August die Schuldigen: „Ministerpräsident Tillich und Innenminister Ulbig sind die Täter! Daneben gab es noch einen Ausführenden, der noch gesucht wird." Unter dem Deckmantel des Kinderschutzes wird so jene diffuse Angst geschürt, die sich gegen „die da oben“, gegen Flüchtlinge und Asylbewerber richtet.

Weglassen oder veröffentlichen?
Dabei steht am Anfang dieser Reaktionskette eine Aussage, deren Inhalt eine nähere Betrachtung lohnt und die Frage aufwirft, warum die mögliche Herkunft des Täters für die Berichterstattung wichtig sein soll. Freie Presse-Chefredakteur Torsten Kleditzsch erklärt dazu auf 371-Anfrage: „Wir haben uns zur Veröffentlichung entschieden, weil eine Fahndungssituation gegeben war. Die Polizei bat um Mithilfe.“ Die Veröffentlichung von Alter, Nationalität und Sozialstatus des Festgenommenen rechtfertigt er mit eben jener Berichterstattung vom 4. bzw. 5. August. „Aufgrund dieser Vorgeschichte war die Veröffentlichung von Nationalität und Sozialstatus für uns zwingend. Sonst hätte das Verständnis gelitten. Das Alter gehört in der Regel immer dazu.“

Sein Kollege vom MDR, Sachsenspiegel-Chef Olaf Kische, sieht das anders: „Bei der Berichterstattung über den Tatverdächtigen im Chemnitzer Missbrauchsfall haben wir uns entschieden, die Herkunft bzw. Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe nicht zu thematisieren. Dabei lassen wir uns vom Pressekodex, also den Richtlinien für die publizistische Arbeit nach den Empfehlungen des Deutschen Presserates, leiten.“

Diese gegensätzlichen Ansichten verdeutlichen eine Debatte, die schon lange unter Deutschlands Journalisten tobt. Soll man die Herkunft eines Täters benennen, wenn diese bekannt ist? Gerade der MDR musste sich auf einigen Websiten den Vorwurf gefallen lassen, eine Information der Polizei unterschlagen zu haben. Auch Kleditzsch gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass Journalisten eine besondere Verantwortung haben. „Wir sollten uns aber auch nichts vormachen: Das, was wir veröffentlichen, ist nur ein Teil des gesellschaftlichen Gesprächs. Das war schon vor Facebook so, gilt heute aber umso mehr. Lassen wir etwas weg, was relevant ist, leidet unsere Glaubwürdigkeit. Gesprochen wird trotzdem darüber. Nichts ist gewonnen, nur wir haben uns selbst der Möglichkeit beraubt, mit einer sauber recherchierten Geschichte zur Sachlichkeit beizutragen.“

Sprache und Rassismus
Eins fällt aber bei allen Medien und letztendlich auch bei der sächsischen Polizei auf: Niemand hinterfragt, welche Belastbarkeit die Polizei-Formulierung „soll vom Typ her Nordafrikaner gewesen sein“ tatsächlich hat. Genau genommen impliziert sie direkt, dass alle Nordafrikaner gleich aussehen (und alle „Südländer“ gleich mit, wenn man dem Zitat aus dem Fernsehinterview Glauben schenkt). Alle sind also gleich groß, gleich dick, gleich dünn, ganz abgesehen davon, dass es „südländisch“ aussehende Sachsen genauso gibt wie Libyer mit schwarzer Hautfarbe und Franzosen mit algerischen Vorfahren? Auf 371-Anfrage stellt Polizeisprecherin Jana Kindt klar, dass „wenn Zeugen zu bestimmten Merkmalen wie Größe, Statur, Gesichtsform keine Aussagen gemacht haben, auch nichts veröffentlicht werden kann“ und fügt hinzu, dass die Polizei auf die Motivation von Zeugen, bestimmte Aussagen zu treffen bzw. nicht zu machen, keinen Einfluss und auch nicht zu kommentieren habe. Dass dabei eine Täterbeschreibung in Umlauf gebracht wird, die bei genauer Betrachtung als höchst unpräzise einzuschätzen ist, will die Polizei nicht erkennen. Auf die Nachfrage, wie denn nach Polizeiansicht der Typ Nordafrikaner aussieht, antwortet Jana Kindt, dass die Bezeichnung Nordafrika eine offizielle geografische Bezeichnung sei. Von Marokko bis Eritrea, von der tunesischen Mittelmeerküste bis zur Sahara – alle gleich?

Hier greift ein stereotypes Denken, dass, im konkreten Fall afrikanischen Kulturen und Regionen jene Diversität aberkennt, die bei europäischen als selbstverständlich angesehen wird. Und genau deshalb ist es weiten Teilen der Journalisten-Zunft aber eben auch der Polizei oft nicht möglich, in einer diskriminierungsfreien Sprache zu kommunizieren. Sprache ist das Übertragungselement für rassistische Denkmuster, für Vorurteile, Ängste und Hass. Dass es aber offensichtlich notwendig ist, eine diskriminierungsfreie Sprache zu trainieren und zu etablieren, zeigen die Auswirkungen des undurchdachten Konjunktivs „soll vom Typ her Nordafrikaner gewesen sein“. Bis zum Redaktionsschluss dieses Magazins wurde kein Täter zum Verbrechen vom 3. August dingfest gemacht. Im Netz hingegen wurden bereits Tausende Menschen als schuldig verurteilt.

Text: Lars Neuenfeld Foto (oben): knallgrün/photocase.de

"Leider ist es am Ende des Tages so, dass diese Chemnitzer Täterbeschreibung wenig zur Aufklärung des Sexualverbrechens beitragen wird, dafür aber umso mehr der Hassstimmung einiger Deutscher gegen Flüchtlinge steigern wird." sagt Prof. Dr. Susan Arndt. Sie lehrt englische und afrikanische Literaturen an der Universität Bayreuth. Ihre Publikationen zu Rassismus und Sprache wie die im Unrast-Verlag erschienenen Bücher „Wie Rassismus aus Wörtern spricht: (K)erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache“, Afrika und die deutsche Sprache: ein kritisches Nachschlagewerk“ sowie das bei C. H. Beck erschienene „Die 101 wichtigsten Fragen: Rassismus“gelten als Standardwerke auf diesem Gebiet. Lars Neuenfeld sprach mit ihr über Polizei, Medien und Antirassismus als Schwerstarbeit.

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