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Johannes sucht das Glück

Zu Besuch in der Spielo

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Da war dieses wichtige Onlineformular - die Sachbearbeiterin des Finanzamts Chemnitz-Süd sagte, es solle bis 15 Uhr ausgefüllt und bei ihr eingegangen sein, ansonsten müsste ich mit einer erneuten Mahngebühr rechnen, die diesmal nicht so harmlos wie die letztjährige ausfallen würde.

Und jetzt? Der Zeiger meiner Digitaluhr nähert sich gewissenhaft dem roten Bereich - „Showdown auf der Clausstraße“. Ich stehe an der Star-Tankstelle, gute 20 Fußminuten entfernt vom heimischen W-Lan - unschaffbar. Ich kaufe mir neuen Tabak und versuche meine Gedanken während der ersten tiefen Züge (außerhalb der Rauchverbots-Zone) zu sortieren. Meinen Steuer-Account in dem dazugehörigen Online-Portal hatte ich bereits aktiviert, doch das Formular mithilfe meines Smartphones zu vervollständigen, glich einem Drahtseilakt über den Schluchten des Grand Canyon. Meine Überlegungen sind scharfsinnig, mein Blick schweift.

„Internet [&] Billard“ - Eine Werbetafel gegenüber reißt mich aus meinen Gedanken.

Sind die totgeglaubten Internetcafés zurück im 21. Jahrhundert? Befindet sich das mobile Internet in ernstzunehmender Gefahr oder haben die Betreiber schlichtweg die Absicht, Kunden mit leeren Versprechungen in ihre Räumlichkeiten zu locken? Ich lasse das Tageslicht hinter mir, betrete zurückhaltend, ohne große Erwartungen und dennoch hoffnungsvoll den Laden und suche eine kundige Person. Schnell wird mir klar, dass sich der Hauptverdienst des Betreibers höchstwahrscheinlich nicht aus billardspielenden Pärchen oder eingemieteten Mitgliedern des Hackerkollektivs Anonymous generiert, sondern durch Glücksspiel. Spielautomaten schmücken neben riesigen Camel-Grafiken und defekten Leuchtreklamen die Wände der Spielothek. Vereinzelt sitzen Menschen vor den bunten Kästen, bedienen sie, teilweise zwei oder drei parallel im Automatik-Modus. Wurden sie auch auf der Suche nach einer zuverlässigen Internetquelle angespült? Ist es für mich bereits zu spät? Hat es überhaupt schon begonnen?

„Kann ich Ihnen weiterhelfen?“ - ertönt eine Stimme in gebrochenem Deutsch aus Richtung der Bar. Der Kopf einer Dame mittleren Alters schiebt sich langsam am Limonadenzapfhahn vorbei und bewegt sich ein wenig musternd von oben nach unten. Etwas verdutzt trete ich näher und schildere mein Anliegen detailliert, als müsste ich mir einen der begehrten Plätze an einem der Office-Rechner mühevoll erkämpfen. Sie drückt mir einen Zettel mit der Erklärung zur PC-Nutzung in die Hand, nimmt die eben frisch gepresste Fanta und bringt sie einem der Herren. Der in Latzhose gekleidete Mann hatte gerade in Wohnzimmermanier seine Beine auf der Ablagefläche unterhalb seines Automatenbildschirms übereinandergeschlagen. „Danke Elke“ murmelt er etwas unverständlich durch seinen grauen Bart, ohne seinen Blick von den kreisenden Früchten abzuwenden. Während ich an ihnen vorbeigehe erkenne ich über dem digitalen Obstsalat den Name des Spiels: „FRUITINATOR“. Am Automaten daneben bleibe ich kurz stehen und blicke auf das gesamte Ausmaß der Kreativität dieser Spieleentwickler. „Dragons Treasure“, „Magic Mirror“, „Book of Ra“ - Pharaonen, Ritter, Schätze, Feen. Bei derartiger Fantasie und Zauberei kann ich verstehen, dass der Besucher neben mir auf die greifbarere, sichtbar gesündere Variante mit Zitronen und Pflaumen zurückgreift.

Das Stundensignal meiner Uhr holt mich zurück in die Realität. In der Hoffnung dass meine Sachbearbeiterin das akademische Viertel als Kulanzmaßstab ansetzt, begebe ich zu meinem heutigen Arbeitsplatz, nehme auf dem Ikea-Drehstuhl platz und starte den PC. Das Login Prinzip kenne ich noch aus der Gymnasialzeit, als man sich im Tietz zwanzig Freiminuten ergatterte, um seine eingegangenen Nachrichten auf triff-chemnitz.de zu beantworten. Während der Ladezeit schaue ich mich geduldig um. Über die mir bis dahin noch nicht aufgefallenen Deckenlautsprecher läuft überdurchschnittlich leise Radiomusik. Als sich die Homepage des Steuerportals öffnet erkenne ich Barett Strongs Stimme: „I want Money - that’s what I want“. Ich frage mich, welche Lieder besser zu dieser Situation passen könnten und merke schnell, dass das aufgrund des zeitlich angespannten Moments keine so gute Idee ist. Den Fragebogen an sich kenne ich bereits, die Zahlen habe ich auf meinem USB-Stick dabei. Seite für Seite hangele ich mich durch den Finanzdschungel - es gibt doch noch Momente in denen man einem soliden Windows XP - Rechner gegenüber seinem Smartphone den Vorrang gewährt. Die letzte Seite - Einnahmenüberschussrechnung. Nachdem ich diesen Endgegner besiegt und die Senden-Taste betätigt habe, schaue ich auf die Uhr: 15:10 Uhr. Ich sende ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, beende die Sitzung und werfe nach kurzen Verhandlungen mit Elke einen Euro in die Kaffeekasse, für den guten Zweck oder so. Ich bedanke mich freundlich, lasse die defekten Leuchtreklamen, Camel-Grafiken und Spielautomaten hinter mir zurück und öffne die Eingangstür. Da ist es wieder, freue ich mich, Tageslicht. Als ich die Tür hinter mir schließe, höre ich noch einmal das Radio aus dem Außenlautsprecher. Diesmal die Stimme von Pink Floyds Frontmann David Gilmour: „Money, so they say - Is the root of all evil today.“.

Text: Johannes Richter


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