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Brühl vs. Reitbahnviertel

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Eigentlich schien das Brühl-Projekt schon gescheitert. Halbherzig begonnen, ließen GGG und Stadtplaner das ambitionierte Projekt ins Leere laufen. Doch ein neues Stadtentwicklungskonzept und nicht zuletzt die nahenden Kommunalwahlen verhelfen der Idee vom „Szeneviertel“ mit Kneipen, Läden und Galerien zu einer Renaissance. Und immerhin: Zarte subkulturelle Blüten wie das delicate oder diverse Fashionshops halten sich wacker und trotzen der Trostlosigkeit. Träumt man hier noch den Traum vom kleinen Szeneviertel am großen DDR-Boulevard? Andere hingegen sind aufgewacht und sehen im Reitbahnviertel bessere Chancen für die Umsetzung solcher Planspiele. „Experimentelles Karree“ lautet die Zauberformel, mit der zwischen Uni und City unkonventionelle Lebens- und Geschäftsideen verwirklicht werden sollen. Was ist nun besser? Alex Dinger und Lars Neuenfeld haben sich bei Brühlianern und Reitbahnviertlern umgehört und Pro und Kontra gesammelt.

Eingedenk der Bevölkerungsentwicklung in unserer Stadt ist es vermessen zu glauben, dass sowohl der Brühl als auch das Reitbahnviertel in voller Prosperität zu entwickeln ist. Da aber das Potential für einen Standort in unserer Stadt gegeben ist und als wichtigstes Erscheinungsbild die Urbanität erreicht werden soll, bleibt eingedenk der Größe beider Areale das Reitbahnviertel als Vorzugsvariante. Da das Reitbahnviertel die Verbindung zwischen dem Herzen unserer Stadt und dem Uni-Campus darstellt, könnte dieses Viertel die Erwartungen erfüllen, die aber an eine hochwertige Ansiedlung geknüpft sein sollte.
Dr. Gerhard Schultz (CDU-Stadtrat)

Der Brühl hat Tradition als lebendiges Viertel. Unkonventionelle und etablierte Gewerbetreibende sind gleichermaßen auf dem Brühl ansässig und es gibt viele weitere Interessenten. Das zukünftige Bahnhofsviertel, als Tor zur Stadt, kann von einem lebendigen Brühl profitieren und umgekehrt. Nicht zu vergessen ist, dass es auch im Zentrum einen Unistandort gibt. Chemnitz hat die Chance, zentrumsnahes Leben, Wohnen und Arbeiten, in altstadtähnlichem Flair, mit privaten, gemeinschaftlichen und städtischen Investitionen umzusetzen.
Carsten Tanneberger (Cube Club)

Bitte keine falsche Bescheidenheit, daran krankt Chemnitz ja schon länger. Warum sollte man sich denn mit nur einer von zwei guten Ideen begnügen? Interessenten und Enthusiasten gibt es doch für beide Projekte. Hier versuchen Bürger doch tatsächlich einen intelligenten Stadtumbau. Die bei Brühl und Reitbahn involvierte städtische GGG könnte doch mal unter Beweis stellen, dass sie keine reine Abbruchfirma ist und es richtig war, das Unternehmen nicht zu verkaufen, indem sie sich ähnlich ins Zeug legt wie damals für Mittelstandsmeile und Tietz.
Jan Kummer (Künstler)

Das man neben einem Altersheim nur schwer eine Jugendszene etablieren kann, leuchtet jeder und jedem ein! Krach wird dort schon vor seiner Entstehung erbittert bekämpft. Also rein ins Reitbahnviertel und dort alle jugendlichen Kräfte sammeln! Die günstige Lage zwischen Uni und Stadt, die Leute mit ihren Ideen, Plänen und Ansätzen sprechen eindeutig für die ReBa! Jetzt müssen „nur“ noch „die Großen“ überzeugt werden!
Anna Schüller (Jugendforum Chemnitz)

Beim Experimentellen Karree handelt es sich um eine wirtschaftliche und durchaus zu politisierende Thematik, bei der allen Beteiligten ein neues Maß an Risikobereitschaft und Verantwortungsbewußtsein abverlangt wird. Am Brühl geht es lediglich darum, den Interessierten moderate und den Gegebenheiten angepasste Mietpreise zu offerieren. Die Voraussetzungen könnten nicht besser sein. Es ist höchste Zeit, die anderenorts schon lang praktizierte Wohn-, Lebens und Arbeitskultur in Szenekarrees im städtischen Alltag zu integrieren und nicht jeden Freidenker, Künstler oder potenziell erfolgreichen Geschäftsmann davonziehen zu lassen. Das Interesse, die Ideen und die Umsetzungsbereitschaft dieser Protagonisten ist bei beiden Projekten gegeben.
Marcus Nicer (delicate, Brühl 30)

Alternativkultur in einer Stadt ist vergleichbar mit Wildwuchs in einem Garten: Man kann ihn nicht machen, wohl aber verhindern. Ob Brühl oder Reitbahnstrasse, in Chemnitz fehlt die Gelassenheit, etwas unkontrolliert wuchern zu lassen, die Bereitschaft der Kreativität Raum und Haus zu geben. Alternativkultur kann man nicht gezielt entwickeln, weder auf dem Brühl noch auf der Reitbahnstraße. Es würde schon reichen, endlich damit aufzuhören, jeden alternativen Belebungsversuch im Keim zu ersticken.
Annekathrin Giegengack (Stadträtin Bündnis90/ Die Grünen)

Wir haben jetzt drei Jahre an das Brühlprojekt geglaubt und müssen feststellen, dass uns die Personen mit den größten Möglichkeiten aufhalten (Stadt und GGG). Wir haben viel Zeit, Geld und Mut in dieses Projekt gesteckt und mussten erfahren, dass man viel machen kann, wenn man das passende Kleingeld mitbringt, immer nach dem Motto ‚wenn sie es kaufen, können sie machen was sie wollen.‘ Was das Reitbahnprojekt betrifft, sehe ich ein großes Kontra und ein sehr großes Pro. Pro: die Nähe zur Uni und damit verbunden viele junge Menschen. Kontra: der antikapitalistische Faktor nervt und verhindert viele interessante Möglichkeiten. Also Schluss mit der Schwarzmalerei, beide Konzepte werden weiterhin Früchte tragen und ich bin stolz auf alle Chemnitzer, die etwas bewegen wollen und es auch machen!
Maxim Dietze (Nine Hillz Gear, Brühl 45)

Das Reitbahnviertel bildet die Verbindung zwischen Campus und Innenstadt, daher finde ich es grundsätzlich wichtig, diesen Stadtteil wieder zu beleben. Dies sollte in einer Weise geschehen, die für Studenten und junge Leute attraktiv ist, um die gefühlt große Distanz zwischen Campus und Stadtzentrum zu überwinden. Szeneviertel kann man jedoch nicht vom Schreibtisch aus entwickeln, dazu braucht es vor allem diejenigen, die Ideen haben und viel Zeit und Energie in deren Umsetzung investieren, Mitstreiter suchen, Vereine gründen usw., die „Szene“ eben. Wenn es an beiden Standorten Ansätze für eine Szenenbildung gibt, sollte man beiden eine Chance geben. Und wer weiß, vielleicht entstehen ja auch zwei Szenen, die sich gegenseitig beleben und das Bild von Chemnitz insgesamt verjüngen.
Anja Schönherr (Studentenwerk Chemnitz-Zwickau)

Das Experimentelle Karree kann auch als Labor im Kleinen für den Brühl als Großes wirken. Denn im Reitbahnviertel ist der Prozess weiter fortgeschritten, zeigt Probleme und Lösungen auf. Darüber tauschen wir uns aus, daran lernen alle. Die Frage, was besser ist, ist hier irrelevant: Gemacht wird, was gedacht wurde und umsetzbar ist. Wie das konkret aussieht, entwickelt sich vor Ort. Beide Entwicklungen laufen; das ist gut. Solange diese niemand mutwillig abwürgen will, zeigen sie den Bedarf an der Basis auf. Und der ist immer relevant.
Egmont Escher (Verein Experimentelles Karree)

Ich finde es unsinnig, die beiden Projekte nun gleich wieder gegeneinander auszuspielen: Wichtig ist doch, dass beide Vorhaben grundsätzlich ermöglicht und nicht wieder ausgebremst werden. Dann wird sich in den nächsten Jahren schlichtweg zeigen, ob beide Viertel funktionieren oder nur eins. Ich fände am Brühl toll, dass ich dann endlich einfach mal unproblematisch von der einen in die andere Kneipe wanken könnte, falls mir in der ersten jemand unangenehmes begegnet - ohne lange durch die menschenleere Innenstadt zu tapsen.
Gregor Eichhorn (Filmemacher)

Sich entscheiden zu müssen, welchen Stadtteil man beleben will und welchen dann eben nicht, ist keine zielführende Politik. Wenn eine Initiative für eine familiengerechtes Chemnitz bestand haben soll, dann muss dies mit belebten Stadtteilen einhergehen. Im Zweifelsfall plädiere ich zwar für das Reitbahnviertel, um die Lücke zwischen Campus und Innenstadt zu schließen, denn wo sollen die Jugendlichen herkommen, wenn nicht von der Uni? Ohne gravierende Einschnitte wird Chemnitz jedenfalls bald geriatrische Hauptstadt der Republik!
Martin Fischer (Studentenrat TU Chemnitz)

Da wir in den letzten drei Jahren die „Begehungen“ auf dem Brühl organisiert haben, hängt unser Herz natürlich auch an diesem Ort. Warum soll etwas, was für ein Wochenende gut funktioniert, nämlich Leute für den Brühl zu begeistern, nicht auch auf Dauer funktionieren? Das man den Brühl nicht von einem Tag auf den anderen „füllen“ kann, ist vollkommen klar. Auch hier besteht die Möglichkeit, einfach mit einem Karree zu starten. Der Vorteil: Wenn es funktioniert, gibt es Dank nicht vorhandener Investoren noch genügend Freiraum dies zu erweitern, was im Reitbahnviertel wohl eher schwierig werden würde. Auch die Infrastruktur mit den vielen kleinen Läden und das Flair des Brühls an sich machen diesen Ort ideal für ein „Szeneviertel“, auch wenn dieser nicht die unmittelbare Nähe zum Campus der Uni, aber immerhin zur StraNa, vorweisen kann.
Mandy Knospe (eocus e.V., Begehungen)

In Chemnitz war bei der Idee eines Kiezes noch nie jemand soweit wie derzeit die Protagonisten im Reitbahnviertel. Sogar der Stadtrat hat in dem Experimentellen Karree-Konzept zugestimmt, was auch mit der Bereitstellung von Geld verbunden ist. Deshalb stehen wir als SPD hinter der Entwicklung des Reitbahnviertels. Sollten sich wieder Leute finden, die auf dem Brühl etwas machen wollen, sind wir die Letzten, die nicht bereit wären uns die Ideen anzuhören und zu vermitteln. Ich hatte damals die erste Initiative sehr unterstützt und mich auch mit dem damaligen GGG-Chef Herrn Diedrich, leider ohne Erfolg, auseinanderzusetzen versucht. Sein Auftritt dazu im Kulturausschuss bleibt mir immer in negativer Erinnerung.
Ulf Kallscheidt (SPD-Stadtrat)

Der Brühl ist städtebaulich und damit in Bezug auf mögliche Läden und Kneipen eindeutig die bessere Variante. Doch das ist leider nur die Theorie. Praktisch ist der Brühl in der Gegenwart ohne ausreichende Bewohner um daraus eventuell ein Szeneviertel machen zu können. In der Gegend des Reitbahnviertels gibt es sowohl Bewohner als auch Projekte mit Ausstrahlungskraft (Reba 84, Weltecho, Südbahnhof usw.), und es gibt ein gutes Konzept (Experimentelles Karree) um es weiterzuentwickeln. Als Bindeglied zwischen Uni und Innenstadt hat das Viertel bereits eine Funktion und muss nicht erst neu „besiedelt“ werden. Deshalb: Erst das Reitbahnviertel entwickeln. Hier bestehen die größeren Chancen auf Erfolg.
Patrick Pritscha (Stadtrat Die Linke)

Stichwort Brühlprojekt:
2006 initierte die GGG das Konzept „Arbeiten und Wohnen am Brühl“. Wer hier wohnen wollte, sollte nur 3 Euro/qm Wohnfl äche zahlen, wer eine Laden eröffnete, zahlte nur 1,50 Euro pro Quadratmeter. Die GGG richtete Heizung, Elektro- und Sanitäranlagen her, um den restlichen Ausbau mussten sich die Mieter selbst kümmern. Noch günstiger wurde es, wenn Ladenbetreiber auch eine Wohnung am Brühl bezogen. Begonnen wurde das Projekt in den Häusern Brühl 41 - 49, trotz geplanter Erweiterung kam es aber 2007 zum Erliegen. Der Verkauf mehrerer Häuser seitens der GGG an einen Investor, der am Brühl altersgerechte Wohnungen schaffen wollte, fällt in diese Zeit.

Stichwort Experimentelles Karree Als Ergebnis mehrerer Workshops entstand das Vorhaben, in dem Komplex zwischen Bernsbachplatz, Clara-Zetkin- und Fritz- Reuter-Straße ein „experimentelles Karree“ zu entwickeln. Preiswerte Wohnungen zum Selbstausbau gehören dazu, auch kleinteiliges Gewerbe, gern mit Kunst- und Ateliercharakter. Auf über 1.500 qm sollen Büros, Werkstätten und Beratungsräume entstehen. Für Gastronomie und den Betrieb eines Hostels gibt es bereits konkrete Interessenten. Der Gebäudekomplex gehört zum Großteil der GGG, die diesen aber verkaufen will. Verhandlungen wurde mit dem Verein „Experimentelles Karree e.V.“ aufgenommen. Im November 2008 gab es zudem eine Stadtratsbeschluss, der die Entwicklung des Reitbahnviertels und insbesondere des „experimentelles Karrees“ forcieren soll.

Erschienen im 371 Stadtmagazin 03/09

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