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Wie konnte das passieren?

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Als am Sonntagmorgen die Nachricht von einem Toten in der Chemnitzer Innenstadt aufploppt, ahnt noch keiner, welche Welle dieser Tat folgt. Keine 48 Stunden später ist Chemnitz eine andere Stadt.

26.08.2018: Kurz vor 8 Uhr geht die Meldung bei den lokalen Medien online, um 16:00 ziehen 1000 Bürger*innen angeführt von prügelnden Hooligans durch die Chemnitzer Innenstadt. Wie konnte das passieren? Am nächsten Tag bestimmen die Bilder vom marodierenden Mob die deutschen Medien, erneut starten Demoaufrufe und am Montagabend erlebt Chemnitz einen der größten rechten Aufmärsche, die es je Deutschland gab. Erneut kommt es zu gewalttätigen Ausschreitungen, die ganze Welt sieht Fotos von Personen mit Hitlergruß, die neben tatenlosen Polizisten stehen. Wie konnte das passieren?

Historisch betrachtet wird der 27. August 2018 als der Tag mit der bis dato größten rechtsmotivierten Kundgebung in Chemnitz seit Ende des dritten Reiches eingehen.

Schnelle Antworten
Schnelle Antworten gibt es viele. Die überregionalen Medien sind sich einig: Der Rechtsstaat hat sich in Chemnitz ergeben. Die Polizei gibt zu, nicht mit einem derart großen Zulauf für die als Trauermarsch deklarierte Versammlung der rechten Pro Chemnitz-Bewegung gerechnet zu haben. Zu wenig Polizist*innen wären im Einsatz gewesen. 1000 Personen waren dort angemeldet, 500 sollten dem Aufruf des Bündnisses „Chemnitz Nazifrei“ folgen. Die Polizeiführung entschied sich, diese Annahme zu verdoppeln und mit 600 Kräften vor Ort zu sein. Am Ende gibt die Polizei die Pro Chemnitz-Teilnehmenzahl mit 6000 an, 1000 versammelten sich zur Gegendemonstration. Damit ist klar: Die Polizei wäre bei einer stärkeren Eskalation nie in der Lage gewesen, dieser entschieden zu begegnen.

Das stößt auf Unverständnis seitens der anwesenden Journalist*innen, seitens Gegendemonstrant*innen, seitens der Politiker und Politikerinnen. Aber mal ehrlich: Keine dieser Personengruppen konnte sich vorstellen, dass eine rechte Kleinstgruppe, die weitgehend regional agiert, derart viele Menschen mobilisieren kann. Es schien sogar unwahrscheinlich, dass nach dem Hooligan-Mob vom Sonntag genau diese Gruppe noch einmal aufmarschiert. Doch genau das passierte: Im Demonstrationszug, so unsere und die Einschätzung weiterer Augenzeugen, waren Menschen, die man rein äußerlich dieser Gruppe zurechnen muss, in einem beängstigend großen Maß vertreten (Überhaupt: Ein seltsamer Männerüberschuss prägte diesen „Trauermarsch“). Viele seien von außerhalb angereist, so die sächsische Polizei, aus Berlin, Brandenburg, Thüringen, sogar aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Was schockiert ist die für einige scheinbar selbstverständliche Übereinkunft, seine Wut, seine Ablehnung gegenüber Zuwander*innen gemeinsam mit einem offen faschistischen und brutalen Mob auf die Straße zu bringen. Mindestens 6000 Personen, andere Quellen sprechen von 8000, folgten den Demoaufruf von Pro Chemnitz. Das ist eine für Chemnitz völlig neue Dimension. Historisch betrachtet wird der 27. August 2018 als der Tag mit der bis dato größten rechtsmotivierten Kundgebung in Chemnitz seit Ende des dritten Reiches eingehen.

In der Region Chemnitz gab es seit der politischen Wende 1989 immer eine starke rechte Szene. Hier saßen und sitzen Rädelsführer, die gewaltbereit sind. Hier fand der NSU Unterschlupf, hier hatte er sein Unterstützernetzwerk. Hetzjagden auf Ausländer*innen, Linke und Punks waren in den 1990ern Alltag. Damals wurde das ignoriert, kleingeredet, links und rechts standardmäßig in einen Topf geworfen. Daran hat sich kaum etwas geändert. Selbst nach dem Bekanntwerden der NSU-Verbrechen passierte nichts, als die NPD mit 10 % in den Landtag einzog – keine Reaktion, kein Eingeständnis seitens der regierenden Parteien, dass in Sachsen irgendwie was schief läuft. Als dann die rassistische Pegida-Bewegung in Erscheinung tritt, will man das nicht überbewerten und den Dialog suchen. Die Relativierung rassistischer, fremdenfeindlicher und offen nationalsozialistischer Umtriebe ist leider nicht neu. Das ist eine Antwort. Der mediale Erregungsmodus (#sachsenproblem), in dem sich Deutschland seit dem 26. August und noch stärker seit dem darauffolgenden Montag befindet, überdeckt aber ein Phänomen: Einige Medien dienten regelrecht als Brandbeschleuniger für die Geschehnisse.

Verbale Verbrechen
Mittlerweile ist klar, dass die virale Kraft die Meldungen, die von BILD und Tag24 ohne eine offizielle polizeiliche Stellungnahme aufgrund von Hörensagen in Umlauf gebracht wurden, eine ungeahnte Stärke erreicht haben. Der Artikel auf tag24.de erreichte bis zum Sonntagmittag über 100.000 Leser, am Abend waren es schon 250.000, am Montagabend nahe 350.000. Die Reichweite des BILD-Artikels dürfte ähnlich, wenn nicht sogar stärker gewesen sein. Solche Reichweiten entstehen nie organisch, sprich aus einem direkten Seitenaufruf, sondern viral, also durch Verlinkungen in sozialen Medien. Pro Chemnitz verlinkte den tag24-Artikel nur 15 Minuten nach dessen Veröffentlichung. Drei Nachrichtenbestandteile schienen die Erregung enorm zu beschleunigen: Sexuelle Belästigung, Stadtfest-Sicherheit, Messerstecher. Die ersten beiden Begriffe waren falsch bzw. irreführend.

„Frauen in der City belästigt: Als jemand helfen will, eskaliert die Situation“ - so lautet ist die Facebookanzeige des tag24-Artikels. Heute weiß man: Völlig erfunden. Erstaunlicherweise benutzen die, die am lautesten Lügenpresse schreien, genau die so beschimpften Medien als Verifikation ihrer Thesen. Dabei kommt ihnen der Fakt entgegen, dass vor allem Boulevardmedien in den letzten Jahren verbal enorm aufgerüstet haben (und tag24.de ist das wohl frappierendste weil erfolgreichste Projekt in diesem Segment). Getrieben von Klickzahlen, die vor allem mit Blick auf Werbekunden generiert werden müssen, entstehen extreme Verkürzungen, die mal sinnentstellend, mal schlicht falsch sind. Ethisch ist es zudem verwerflich und mit keinem Pressekodex vereinbar, den Tod eines Menschen auszuschlachten, um Zugriffszahlen zu erhöhen. Aber genau das ist passiert. Die Aufarbeitung, wie dieses Phänomen entstehen konnte und wie in Zukunft derartige Erregungswellen gebrochen werden können, ist eine der wichtigsten Aufgaben der drei Staatsgewalten, aber vor allem der Medien selbst. Die Schuld der sächsischen Politik zu geben oder ein Polizeiversagen zu attestieren, ist zu einfach, zu einfach für 2018. In der digitalen Welt gelten neue Regeln, in der sich auch die Akteur*innen in Politik und Medien anpassen müssen. Allein die Existenz von Donald Trump als amerikanischer Präsident ist ein warnendes Beispiel dafür.

Der Mythos von Tropfen und Fass
Die drei Opfer des eigentlichen Verbrechens, vor allem der Tote, spielen im allgemeinen Erregungsmodus gar keine Rolle mehr. Stattdessen wird in rechten Onlineforen darüber spekuliert, ob dieses Verbrechen quasi der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Die politische Rechte zieht Querverbindungen zu 1989 und sieht einen Volkswillen bahnbrechen. Bei aller Euphorie und Erfolgsbesoffenheit der rechten Szene und vor allem der Pro Chemnitz-Führung: Die Mobilisierung von ein paar Tausend Chemnitzern und Chemnitzerinnen ist beachtlich, für die Mehrheit in der Stadt beängstigend - ein großes Fass ist es nicht. Es ist die stumpfe Instrumentalisierung eines Verbrechens, dessen Aufklärung gerade erst begonnen hat.

Was bleibt ist Trauer. Trauer um die Opfer, aber auch Trauer darüber, dass so etwas in Chemnitz passieren konnte. Von nun an wird die Redewendung von Heidenau-Claußnitz-Freital um Chemnitz erweitert werden. Ausgehend von dem Kästner-Spruch (Bild) stellt sich daher für alle die Frage: War das nur ein verdammt großer Schneeball oder rutscht sie schon, die Lawine.

Text: Lars Neuenfeld (28.08.18)

Text im Bild: Aus einer Rede, die Erich Kästner am 10. Mai 1958 in Hamburg anlässlich des 25. Jahrestages der Bücherverbrennung gehalten hat.

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