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Letzte Frage im April 2022

Herr Kummer gibt Antwort

Veröffentlicht am:

Das 90er-Revival läuft in Chemnitz richtig gut. Jetzt brandaktuell: Chefsachen machen. Herr Kummer erklärt das Phänomen.

Als junge Arbeitnehmerin habe ich immer gelernt: Teamfähig sein, Hierarchien flach halten, gemeinsam Lösungen suchen. Doch plötzlich feiert die Chefsache ihr Comeback. Habeck macht Erdgas zur Chefsache. CDU-Leute fordern, dass Kanzler Scholz mehr Chefsachen machen soll. Und unser Oberbürgermeister macht den Klassiker: Wirtschaft ist jetzt Chefsache. Ist Chefsachen-Sachen machen wirklich die bessere Lösung für Probleme?

Chefsache? Da denke ich an cholerische Firmenpatriarchen, Planwirtschaft, Putins einhundert Meter langen Schreibtisch und holzgetäfelte Direktorenzimmer aus den fünfziger Jahren. Man kann vermuten, dass Leuten wie Scholz und Habeck bewusst ist, dass der Begriff der „Chefsache“ eine nicht allzu ernst zu nehmende Sprechblase ist, die nur unterstreichen soll, dass man ein Anliegen oder Problem wirklich angeht. Kanzler und Vizekanzler haben natürlich Ansprechpartner in den verschiedenen Fachbereichen und es gibt spezialisierte Mitarbeiter und Berater für alle Belange.

Ein guter Vorgesetzter weiß das zu schätzen und wird sich hüten, seine Finger all zu tief in alle Themenbereiche zu stecken. Auch unsere hochkomplexe Welt bricht keinesfalls zusammen, wenn es mal keinen Chef ganz oben gibt, wie wir sehr schön am Beispiel Belgien im Jahr 2010 sehen konnten. 514 Tage gab es hier keine echte Regierung und trotzdem funktionierte das Land. Wirtschaft, Bildung, Gesundheitswesen und alles was sonst noch wichtig ist, arbeiteten tadellos. Moderne Gesellschaften bemühen sich um eine Dezentralisierung von Entscheidungsprozessen und das Einführen von möglichst flachen Hierarchien. Wer Probleme und Herausforderungen ernsthaft mit Chefsache-Geprotze lösen will, wirkt längst fossilienhaft und aus der Zeit gefallen.

Gestrig und fast schon Mitleid erregend wirkt auch, wenn man den Chemnitzer Stadtrat und den Oberbürgermeister immer noch darauf hinweisen muss, dass sich die Kultur- und Kreativbranche zu einem der dynamischsten Wirtschaftszweige der Weltwirtschaft entwickelt hat. Ihr Beitrag zur volkswirtschaftlichen Gesamtleistung in Deutschland betrug im Jahr 2019 106,4 Milliarden Euro. Damit übertreffen die Kultur- und Kreativarbeiter in Sachen Wertschöpfung andere wichtige Branchen wie die chemische Industrie, Energieversorgung oder die der Finanzdienstleister. Die Kultur- und Kreativwirtschaft vermag traditionelle Arbeitswelten mit neuen Technologien und modernen Informations- und Kommunikationsformen zu verbinden.

Kultur- und Künstlerförderung ist, das sollte sich längst herumgesprochen haben, natürlich auch Wirtschaftsförderung. Unbestritten gilt das kulturelle Umfeld einer Region oder Kommune als entscheidender Standortfaktor bei der Ansiedlung von Unternehmen. Länder und Städte erkennen zunehmend die Bedeutung einer cleveren Verflechtung von Kultur- und Kreativsektor mit der traditionellen Wirtschaft, und so wirkt es geradezu grotesk, wenn aus der Chemnitzer Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaft (CWE), die in den vergangenen Jahren durchaus erfolgreich Wirtschaft und Kultur miteinander zu verbinden vermochte, der Geschäftsbereich „Wirtschaft“ ausgegliedert wird.

Dieser soll künftig bei der, in der Vergangenheit nicht durch innovative, effiziente Unternehmenskultur aufgefallenen Stadtverwaltung, direkt beim bzw. unter dem Oberbürgermeister Sven Schulze angegliedert werden. Chefsache! Intel, Tesla oder Bosch werden sich schon in Chemnitz ansiedeln, wenn der allwissende Boss im Rathaus an das rote Telefon geht, mit den Türen knallt und mal so richtig auf den Tisch haut! Bei der CWE, deren Mitarbeiter sich durch die Chefsachenpläne des Rathauses überrumpelt und wenig gewertschätzt sehen, verbleiben Stadtmarketing, Tourismus sowie kulturelles Gedöns. Der fassungslose Zuschauer fragt sich, wie so ein patriarchalisches und rückwärtsgewandtes Gebaren zu einer modernen Großstadt passen kann. Bleibt eigentlich nur zu hoffen, das das schöne Projekt Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 niemals zu einer Chefsache wird.

Text: Jan Kummer


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