⚠ Diese Webseite wurde nicht für Internet Explorer 11 optimiert. Wir empfehlen Mozilla Firefox , Microsoft Edge oder Google Chrome.

Das Web-App-Mag
Immer auf Tasche

Magazin

Capital Casting

Bidbooks im Vergleich

Veröffentlicht am:

Am 28. Oktober vekündet die Jury, welche deutsche Stadt im Jahr 2025 den Titel European Capital Of Culture tragen darf. Fünf Städte sind noch im Rennen und in jeder haben ein paar clevere Leute in den letzten Monaten ziemlich viel darüber nachgegrübelt, wie man diese Jury rumkriegt. Denn darum geht es. Auch wenn es immer noch Menschen in Chemnitz gibt, die glauben, man müsse die Menschen vor Ort überzeugen, Bullshit. Die Jury muss drauf flippen, dann fließt die Kohle. Aus diesem Blickwinkel heraus muss man die fünf Bidbooks, also die Bewerbungsbücher, lesen. Was steht also drin in den Bidbooks?

Vier 371-Autor*innen haben sich durch die jeweils 100 Seiten dicken Bücher der Chemnitz-Konkurrenten gefressen. Nur für Chemnitz haben wir nach draußen geschaut und ausgerechnet einen Kollegen in der Konkurrenzstadt Hildesheim aufgetan.

Provinz West

Hildesheim ist eine von den Städten, die man googeln muss. Und ich glaub, das ist dann auch schon das, was die Grundlage des Hildesheimer Konzepts - und weiter gemutmaßt - auch die Motivation der Kulturhauptstadtbewerbung ausmacht. Gut 20 Kilometer vor den Stadttoren des Kuha-Konkurrenten Hannover liegt die 100.000 Einwohnerstadt Hildesheim. Und überall aus ihrem Bidbook schallt es, "Hey, wir sind auch da". Da dachte man, Chemnitz pflegt einen Hang, sich selbst kleinzureden, aber das, liebes Hildesheim, kannst du viel besser. Thematisch war das erste Bidbook ganz auf die Provinz zugeschnitten. "Rüben, Rosen und der Sinn des Lebens" hieß es. Das ist zugegeben ein wunderbar poetischer Titel. (Über den Titel des ersten Chemnitzer Bidbooks sprechen wir hier nicht mehr!) Und so hat Hildesheim den Titel 1 auch als Untertitel für Buch 2 behalten. Allerdings hatte die Jury gesagt, das ist uns nicht europäisch genug. Und weil Corona war, hat sich Hildesheim gedacht. Rüben Rosen, okay, aber auch "We Care" - um uns selbst, um einander, um Kultur. Also steht We Care jetzt obendrüber und weil Corona echt überall war, ist das auch sehr Europa.

Dennoch gibt's weiterhin kaum eine Seite im Bidbook, auf der nicht ländlich, provinziell oder Dorf steht. Also wortwörtlich. So sind Struktur- und demografischer Wandel, Erbe, Herkunft sogar Umweltthemen drin. Alles zweifelsohne wichtige Themen, die in Zukunft weite Teile Europas vor allem abseits der Metropolen treffen werden. Bei Hildesheims Streetcredibility in Sachen Provinz seh ich aber zwei Schwächen. Zum einen, das was programmatisch im Bidbook aus der Prämisse folgt: Es gibt viele Einladungen an Akteure, von Stadtschreibern über zahlreiche Performancekünstler*innen bis zu einer durch die Provinz ziehenden Opernsängerin. Es wird zu Ausstellungen um Kirchen und Schlösser und zu runden Tischen, um miteinander zu reden und zu vielen neuen Volksfesten eingeladen. Das klingt alles sehr nett. Und das ist auch das Problem. Es tut niemandem weh. Wie ein Nachmittag am bildungsbürgerlichen Kaffeetisch. In der Provinz. Aber - hier kommt Schwäche Nummer zwei - nicht in der Art Provinz, die Gera oder Süditalien oder so ist. Hildesheim ist eine Provinz wie man sie in Westdeutschland oft findet, in der es der Wirtschaft gut geht, einen ICE-Bahnhof gibt, die Afd unter 10 Prozent holt, wo Fachwerk und Dome aus der malerischen Landschaft ragen. Da haben wir schon Schlimmeres gesehen und fragen uns, ob hier die Schablone dazu entstehen kann, wie mit Kultur die Abgehängten Europas ins große Ganze eingebunden werden können.

Text: Michael Chlebusch

Metropolig

Die Abgabe des zweiten Bid Books haben sich die Hannoveraner*innen verkniffen. Also irgendwie. Denn, erneut haben die Niedersachsen ihre Abgabe zur Kunstaktion gemacht (das erste Bid Book wurde als Roman verfasst). Das verwinkelte Narrativ: Die Stadt gibt statt des Bid Books eine Solidaritätserklärung unter dem Titel „Normalität ist keine Option“ ab – ein Manifest, das die Coronapandemie anspricht, Deutschlands Flüchtlingspolitik anprangert und fordert, dass das KuHa-Geld auf alle Bewerberstädte verteilt wird. Netter Move. Doch dann folgen hundert Seiten einer Datei, die in der Zukunft gefunden wurde und das zweite Bid Book enthält – großes Drama, viele Winkelzüge, doch spannend.

Das Buch ist poppig präsentiert, eine Ästhetik, die sich nicht anbiedert, sondern Spaß macht, ebenso der Inhalt. Flaggschiff soll eine mobile Agora (eine Art Verhandlungsraum sein), die 2025 um den Hannoveraner Innenstadtring wandert und bei jedem der zwölf Zwischenstopps ein Schlaglicht auf bestimmte Bereiche der Stadt, des Umlandes und auf andere Themen wirft. Dabei sieht sich Hannover nicht nur als Teil Europas, sondern als Part einer Welt, die durchaus Probleme hat. So soll beispielsweise auch die Seenotrettung und Flüchtlingshilfe thematisiert werden. Außerdem sollen Hannoveraner Pferde die Stadt fluten, Meckerern wird ein Beschwerdeturm eingerichtet, von dem aus Sänger*innen täglich den Beef des Tages musikalisch verkünden. Eine Trollfabrik for Good ist geplant und Vieles, was sich mit Nachhaltigkeit, Digitalisierung und anderen Themen befasst, die jungen urbanen Menschen unter den Nägeln brennen. Zum Vergleich: wir werben mit Nazihintern auf Demos, die bauen schwimmende Kulturzonen aus Müll.

Ein solches Narrativ kommt natürlich nicht aus dem Nichts. Dafür haben sich die Niedersachsen kreative Hirne ins Boot geholt: darunter Aljoscha Begrich vom Gorki-Theater und Jean Peters vom Peng!Kollektiv (ja, die mit den Steuergeldern für die Antifa). Dem Team ist ein wirklich reizvolles Konzept gelungen, sehr sexy in seinem kreativen Fortschrittswillen. Ob es aber die Mehrheit der Menschen anspricht, gilt es zu bezweifeln. Schließlich besteht Europa eben nicht nur aus progressiv denkenden kulturaffinen Städter*innen. Europa besteht auch aus traditionsbewussten Bratwurstesser*innen, die sich abgehängt fühlen und auf Nazi-Demos gerne mal ihren Hintern zeigen. Hannover prescht mit seinem Konzept im Schweinsgalopp vor, doch können die Besucher*innen da folgen?

Text: Sarah Hofmann

Noch schwammiger

Magdeburg ist wie Chemnitz, nur noch leerer. Das Motto für das erste Bid war deshalb „Out of the Void“. Die Jury ist aber eher streng mit Humor, und fand das wohl zu negativ, weshalb Magdeburg jetzt die Schöpfungsgeschichte neu erzählt und „from void to vivid“, also von der Leere ins Leben will. Dabei soll die gute alte Anziehungskraft helfen, die ist schließlich so magisch und zwingend wie die Strömung der Elbe. Das neue Motto heißt „Force of Attraction“, die Anziehung soll in der Kultur stecken und das ist im Prinzip ziemlich schwammig. Die Stadt soll zum Playground werden, die Stadt soll Menschen aus ganz Europa anziehen, die Schwerkraft soll durch die bewegte Stadtgeschichte entstehen.

Wie Chemnitz auch, haben die Strategen der Magdeburger Bewerbung erkannt, dass die Jury vor allem aus osteuropäischen Frauen besteht, und deshalb das Ost-Thema an mehreren Stellen in den Vordergrund gerückt. Überhaupt geht es immer und immer wieder um die eigene Geschichte: Um das Magdeburger Recht, Otto von Guericke, um den Dom, den Krieg, das Bauhaus, und ganz viel um den Komponisten Georg Philipp Teleman. Die Projekte klingen teilweise kompliziert und sind nicht richtig niedrigschwellig, jedenfalls war der Programmteil irgendwie anstrengend zu lesen. Dennoch stehen da einige gute Sachen drin. Zum Beispiel ein Projekt für Sinti und Roma, das Roma-Künstler:innen fördert, ein Zucker-und-Salz-Industriekulinarikprojekt oder ein komplettes Programmfeld zum Thema Sound, Musik und experimentelle Technologien, und das ist durchaus cool.

Das glamourt nicht wirklich, aber das soll es auch gar nicht, das würde nicht zur Stadt passen. Das Bidbbook ist eine klassische grafische Arbeit, mit viel Typo, Bauhaus-inspirierten Farben und wirklich überdurchschnittlich vielen Fotos.

Magdeburg präsentiert sich als eine pragmatische, und manchmal etwas spröde Stadt, die sich selbst auch nicht so richtig mag, aber für eine Sache brennen kann, wenn man sie einmal aus der Reserve lockt. Eine Stadt der Wissenschaft, die sportverrückt ist, viel Platz und viel Moderne hat, zufällig Ossi ist und wie Chemnitz die Erfahrungen der Ostdeutschen mit den Erfahrungen der Geflüchteten vergleicht. Kurz: Die Magdeburger Bewerbung sagt alles, was die Chemnitzer auch sagt, nur das generische Attraction-Motto macht das Narrativ noch etwas schwammiger.

Text: Johanna Eisner

Touristisch

Nürnberg ist eine sehr schöne, sehr alte und sehr bratwurstige Stadt. Dazu hat Nürnberg einen weltberühmten Weihnachtsmarkt, eine Burg, Albrecht Dürer und jedes Jahr jede Menge Touristen. Die ganze Welt kennt Nürnberg – was aber keiner bisher wusste: Nürnberg fühlt sich schlecht, so als hätte es zu viele alte Bratwürste gegessen. Nürnberg leidet aber an einer Überdosis Vergangenheit. Dürer, Lebkuchen, Leni Riefenstahl, irgendwelche alte Globen, Reichsparteitag – dass alles zieht die Nürnberger mega runter. Aber jetzt soll damit Schluß damit. Aus der Vergangenheit soll eine helle europäische Zukunft entstehen. Weil ohne Vergangenheit keine Zukunft und so. Wortspiel-Motto dazu: Past Forward.

Dafür wollen sie eine Zeitmaschine bauen, wörtlich mit den Technologien des 21. Jahrhunderts Vergangenheit erlebbar machen. KI, 3-D, Oh jemine. Einige dieser Zeitmaschinen-Ideen lesen sich aber echt megaspannend. Ausgehend von Riefenstahls Parteitagsfilmen soll nach der Ästhetik des Grauens in der modernen Kunst gesucht werden. Jonathan Meese macht was, Elfriede Jelinek schreibt was. Im Kern wollen sie aber ihre angestaubte touristische Infrastruktur aufpolieren und um einige Highlights erweitern. Quasi ein Konjunkturprogramm. Boah, wenn das die Jury herausfindet, ist es vorbei mit den Titelträumen.
[nbsp]
Inhaltlich funkelt das nicht so sehr, finanziell blinken einem aber stolze 102 Bayern-Millionen an. Das ist das mit Abstand höchste Festivalbudget unter den fünf Bewerberstädten. Das wirkt ziemlich aufgepimpt, aber die Frage bleibt natürlich: Flunkern die Franken oder ist diese dreistellige Millionensumme nicht sogar die realistischste Summe?
[nbsp]
Am Ende isat dieses Buch für Touristen und Touristinnen aus aller Welt gemacht. Alles wirkt ein wenig so, als hätte sich es sich ein emsiger Tourismusvermarkter angeschaut: „Aus diesem Dürer kann man mehr machen. Und dieses geile Nazi-Gelände, da geht auch mehr.“

Text: Lars Neuenfeld

Luftballonlastig

Chemnitz macht sich – so klingt es durch das gesamte zweite Bid Book zur Bewerbung um die Kulturhauptstadt. „C the Unseen“ ist das Motto. Mit Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrern, die ein 1200km großes „C“ vor Einreichung bei der Jury im September mit dem Bid Book in der Tasche, auf die Landkarte fuhren, sollte schon im Voraus aus dem Schatten herausgeradelt werden. Der Schatten auf der „osteuropäischen Stadt in Westeuropa“.

Chemnitz will nicht nur tausende DDR-Garagen öffnen und Apfelbäume pflanzen. Die Macherinnen und Macher, die das Bid Book anspricht, von der Garagenbastlerin bis zum sehnlichst auf ein besseres Image des Standorts hoffenden Unternehmer – sie alle sollen aktiv werden für die Stadt und sichtbar für die Welt, naja, zumindest EU-Europa.
Größer macht sich Chemnitz durch die Region, die nicht an der Bundesgrenze endet, sondern u.a. die Partnerstadt Ústí nad Labem mit einschließt. Dazu gehört ein weiteres Fahrradevent: die Friedensfahrt - Tour de France des Realsozialismus – soll wiederbelebt werden und eine Oldtimer-Rallye osteuropäischer Marken aus volkseigener Produktion stattfinden, musikalisch begleitet von der Robert-Schumann-Philharmonie. Das Erzgebirge, UNESCO-Welterbe und anno danno Bergbaugebiet, soll sich als Ort der Ausstellung „Mining: A Story of Love and Greed“ präsentieren.
Als gebürtiger Erzgebirger, und jetzt ansässig in Hildesheim, der Konkurrenz, stellt sich mir die Frage nach Gier und Liebe: Wie viel Liebe steckt noch, wie viel Gier schon, in Chemnitz? Oder in weniger moralisch: Wie viel Solidarität kann, und wie viel Ellenbogen hat die einstige „Stadt der Moderne“? Was von beidem lässt sich im Ist-Zustand nutzbar machen? Der Otto-Normal-Anwohner muss für seine Stadt in Aktion geraten und die Firmeneignerin sich dazu bewegen, ein mögliches „C the Seen“ zu sponsern.

Das Bid Book verrät, dass es zwar an Restbestände des DDR-Softskills, dem solidarischen Umgang untereinander, anknüpft. Die Bewerber täuschen trotzdem nicht drüber hinweg, dass es kein Ding der Unmöglichkeit ist, dass es 2025 wieder zu rassistischen Großveranstaltungen kommt, die es in Karl-Marx-Stadt nie, aber in Chemnitz 2018 zuletzt erst zu sehen gab und global gesehen wurde.

Ob das für die Kulturhauptstadt reicht: ¯\_(ツ)_/¯. Dass aber versucht wird, Chemnitz2025 zu realisieren, zeigt das Bid Book allein optisch: ein Notiz- und Skizzenheft – nichts ist fertig, alles in der Mache. Die luftballonlastigen Foto-Arrangements erinnern wiederum daran, dass da an einem Traum gearbeitet wird. Dass der schön und bunt ist, einen leicht abheben lässt und leicht zum Platzen gebracht werden kann. Das teilt der große Karl-Marx-Städter Traum mit jedem anderen.

Text: Ken Merten

Zurück