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Letzte Frage: August 2011

Herr Kummer gibt Antwort

Veröffentlicht am:

Lieber Herr Kummer, ich bin ein wenig in Sorge um unsere Stadt. Im Juli und August jagt ein innerstädtisches Großereignis das nächste, Kinonächte bis der Arzt kommt, will ich mal flapsig formulieren. Zum Ende des Sommers platzt dann aber endgültig der Mond: Zunächst erwartet uns vom 26. - 28. August ein rund erneuertes, supercooles Stadtfest, drei Tage später versinkt Chemnitz in den Feierlichkeiten zu „100 Jahre Rathaus“ und am folgenden Wochenende drohen uns zu den berühmten „Tagen der Industriekultur“ erneut zigtausende Besucher zu überrollen. Was ist hier los? Sollten alle Chemnitzer in dieser Feierwoche frei bekommen, da, ähnlich dem Kölner Karneval, sowieso niemand nüchtern auf Arbeit erscheinen wird? Sehen Sie bei so viel gebotener Unterhaltung nicht auch die Gefahr, dass Arbeitsmoral und Leistungsfähigkeit in unserer Stadt nachhaltig geschwächt werden?

Schon in der Mitte der zwanziger Jahre hatte der Journalist Paul Wagenknecht in einem Text über ]unsere Heimatstadt festgestellt: „Eine Großstadt wie Chemnitz kennt nicht den Mollklang der Verträumtheit, das stille Traumleben blauer Stunden, in ihr waltet die Brutalität des Konkurrenzkampfes, die Gegensätzlichkeit der Weltanschauungen, der Zyklopische Atem.“ Diese Einschätzung hat natürlich auch heute noch Gültigkeit. Ausschweifende Vergnügungen und knallharte Arbeit bilden hierzulande schon immer eine vertraute Einheit. Der typische Chemnitzer wäre eher irritiert über eine arbeitsfreie Feierwoche. Bis in die 30er Jahre des vergangen Jahrhunderts zählte die Kneipendichte und Produktivität je Einwohner zu den höchsten in Deutschland.

Selbst in den ansonsten eher sauertöpfischen DDR-Zeiten war es für den Proletarier eine liebe Gewohnheit, die Arbeitstage in den betriebseigenen Sälen ausklingen zu lassen. Bands wie Satori, Bumerang, Sirius, Quirl oder das Orchester Karl-Walter sorgten für Ekstase und Exzesse. Manches lief nach Ansicht der damals Herrschenden allerdings etwas aus dem Ruder. So verpflichtete sich der Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt auf einer Tagung in den fünfziger Jahren: „in den Vergnügungsstätten, wo jetzt noch Samba-Jünglinge und nach amerikanischem Muster gekleidete Jugendliche ihr Wesen treiben, systematisch das Auftreten von Arbeitern und fortschrittlichen Jugendlichen zu organisieren, die diese Elemente verdrängen bzw. vom Saal verweisen sollen“.[nbsp]

Für jene, die meinen bei den heutigen Festen und Partys würde allzu ausschweifend gefeiert, ist sicher der Konzertbericht aus der Chemnitzer Volksstimme von 1953 interessant: „Das Orchester wurde dabei von denen unterstützt, die später von der Musik angesteckt die Stühle auf die Tische stellten, aus mitgebrachten Trillerpfeifen den ohrenbetäubenden Lärm vermehrten, ihre Tänzerinnen hin und her zerrten und - man höre und staune - das Bier aus Wassereimern tranken“. Aber wie auch immer die Vergnügungen in Chemnitz abliefen, pünktlich zur Schicht standen die Arbeiter wieder an der Werkbank. Harmlose Kinonächte, ein gepflegtes Stadtfest, Loktransporte und eine Rathausfeier steckt ein echter Chemnitzer lässig weg, da müsste schon der Karl-Marx-Kopf tagelang Schnaps speien, um den Mond wirklich platzen zu lassen.

Erschienen im 371 Stadtmagazin Heft 08/11
Foto: kallejipp / photocase.com[nbsp]

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