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Ein Schiff wird kommen

Chemnitz - Eine Perle am Meeresstrand

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September. Tausende Chemnitzer kehren heim von fernen Urlaubsstränden. Doch muss man so weit reisen, um maritimes Flair zu genießen? Nein, sagen wir! Auch den Erzgebirgsrand durchweht hin und wieder eine frische Meeresbrise. Allerorten kann man mit ein wenig Phantasie das Tröten großer Ozeandampfer hören, umschwirrt vom Kreischen der Hochseemöwen.

Wer sich jetzt fragt, ob wir vom 371 zu lange in der Sonne gelegen haben, dem sei geraten, einfach mal mit offenen Augen durch die Stadt zu gehen. Architekten haben unsere Binnenmetropole nämlich schon lange zum Ankerplatz maritimer Bauwerke gemacht. Da schieben sich Schiffsbüge ins Marktgewimmel, Tsunami-Wellen drohen Einkaufscenter zu verschlucken und Kapitänsbrücken ermöglichen eine sichere Flußüberquerung. In Städten mit echtem Meeres-, See oder Flußpanorama sind Zitate aus der Seefahrt seit Langem fester Bestandteil der Architektursprache. Wie aber schwappte diese Welle in tiefste Sachsen? Wir begaben uns auf eine Spurensuche...

1. Ankerplatz Getreidemarkt. Bullaugen, Reeling und Fenster, die an die Kajüten großer Passagierschiffe erinnern. Friedrich Wagner-Poltrock entwarf das städtische Transformatorenwerk in der Optik eines massigen Ozeanriesen. Wasser war aber weit und breit nicht in Sicht, als das Gebäude 1929 seiner Bestimmung übergeben wurde.

2. Ankerplatz Brücken- / Ecke Bahnhofstraße. Stromlinienförmig und mir einer abgestuften Schiffsreeling im Obergeschoss - Erich Mendelsohn begann 1928 mit den Entwürfen für das Kaufhaus Schocken, 1930 wurde es fertiggestellt. Die Stromlinienform interpretieren Architekturhistoriker als Metapher für Vorwärtsschreiten und Fortschritt, exemplarische Eigenschaften des Neuen Bauens also. Vielleicht wollte der selbstbewusste Stararchitekt mit der Reeling diesen Effekt noch verstärken. Gelungen ist der Bau ihm allemal: Er zählt zu den herausragenden Architekturzeugnissen des 20. Jahrhunderts und fehlt in keinem Fachbuch.

3. Ankerplatz Augustusburger- / Ecke Bahnhofstraße. Trööt, volle Fahrt voraus! Der Dresdner Architekt Walter Kaplan steuert seinen Hochseetanker direkt auf Mendelsohns Schocken zu. Das Stadtwerkehaus wurde 1995 fertiggestellt Laut Kaplan sollte es "in einen Dialog mit dem Mendelson'schen Kaufhaus treten" und verrät weiter: "In meiner ursprünglichen Gestaltungsidee sollte die Gebäudespitze mit dem Glaszylinder, im Erdgeschoss aufgeständert, in einer Wasserfläche ruhen, was den maritimen Charakter sicher noch verstärkt hätte. Durch die gewünschte offene Zugänglichkeit zum Untergeschoss mussten wir auf die Umsetzung dieser Idee leider verzichten. " Trotzdem gut, schließlich erhielt er dafür den Sächsischen Staatspreis für Architektur und Bauwesen.

4. Ankerplatz Chemnitzufer. Schiffsbug und Kapitänsbrücke - Peter Waldvogel hat den Chemnitzfluß vor Augen und lässt sein BfA-Schiff am Seeberplatz anlegen. Damit ist er der einzige, der maritime Architektur tatsächlich mit einem Gewässer verbindet. 1997 wurde das Gebäude fertiggestellt.

5. Ankerplatz Rosenhof. Effekthaschend schiebt sich dieser gläserne Schiffsbug zwischen Markt und Rosenhof. Das so genannte Türmerhaus wurde vom Dresdner Büro nps entworfen und 2001 eröffnet. Ein eigensinniges Piratenboot, denn es kümmert sich herzlich wenig um die umliegende Bebauung.

6. Hier kommt die Flut. Christoph Ingenhovens Peek [&] Cloppenburg-Welle droht jeden Moment die Galerie Roter Turm nass zu machen. Der 2003 eröffnete Bau beruht auf einem radikalen Entwurf. Weit und breit kein Wasser, nirgendwo Wellenformen - Architekturkritiker beschweren sich immer wieder über diese zusammenhanglose Architektur. Egal, schon jetzt wirbt die Stadt mit dem Kaufhaus auf den "Stadt der Moderne"-Autobahnschildern. Hat die Welle das Zeug zum Klassiker?

7. Der Missing Link? 1925 entwarfen die Hamburger Architekten Hans und Oskar Gerson dieses speicherähnliche Lagerhaus für die Firma Emden und Söhne. Mit hanseatischer Klarheit blickt das Gebäude auf das Bahnhofsgelände. Einem Hafen nicht unähnlich, dürfte hier in den 20er Jahren ein großer Warenumschlagplatz gewesen sein. Interessant: Gersons Bau gilt als Initialzündung für das Neue Bauen in Chemnitz. Die hier wirkenden Architekten wie Fred Otto, Max Feistel, aber eben auch Friedrich Wagner-Poltrock schufen in den Folgejahren beachtliche Bauwerke. Darunter eben auch jenes Städtische Transformatorenwerk, siehe 1.

Ist das also das Geheimnis der architektonischen Stadtregatta? Walter Kaplan, Architekt des Stadtwerkehauses, nennt noch einen weiteren, möglichen Grund. "Die Verwendung maritimer Gestaltungselemente ist sicher meiner eigenen Leidenschaft, dem Hochseesegeln, geschuldet. Wie ich feststellte, ist das bei vielen meiner Kollegen ein weit verbreitetes Hobby." Aber auch Modeerscheinungen will er nicht ausschließen. "Sicher sind wir Architekten nicht immer frei von Trends. Anfang der 90er Jahre waren maritime Elemente und Farben bei vielen Gestaltungsaufgaben für Gebäude, Möbel, Wohnaccessoires und Kleidung eben Zeitgeist." Also auch in der Architektur kommen und gehen die Moden. Im Moment jedenfalls scheint der Schiffbau eingestellt. Aber das kommt zurück, ganz bestimmt. Mit genauem Hinsehen entdeckten wir nämlich noch ein passendes Gebäude: Die vier Giebelteile des Wasserschlosses in Klaffenbach erinnern den aufmerksamen Betrachter an umgekehrte Schiffsrümpfe. Erbaut wurde das Schloss im 16. Jahrhundert.

Text: Lars Neuenfeld Fotos: André Koch

Erschienen im 371 Stadtmagazin 09/08

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