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Ich habe die Nummer gegen Kummer in den 2000ern über den Kinderkanal (KiKa) im Fernsehen und später über Jugendzeitschriften, wie der Bravo oder Popcorn kennengelernt. Angerufen habe ich allerdings nie. Mit jemand Fremden am Telefon über die eigenen Sorgen oder Probleme zu sprechen, hätte ich mich nicht getraut. Wahrscheinlich hatte ich dafür auch genügend Unterstützung in meinem direkten Umfeld. Für viele junge Menschen ist die Möglichkeit, sich neutralen und anonymen Gesprächspartner:innen anzuvertrauen, jedoch essenziell.
Deutschlandweit haben seit Bestehen des Beratungsangebots in den 80er Jahren bereits 4,8 Millionen Menschen ein offenes Ohr über die Nummer gefunden. In Chemnitz waren es im vergangenen Jahr 11.392 Personen, darunter vor allem Jugendliche zwischen 13 und 17 Jahren. Jasmin*, die Projektleiterin der Nummer gegen Kummer in Chemnitz, haben wir zum Interview getroffen. Sie hat uns erzählt, wie das Projekt begonnen hat: „Angefangen hat alles in den 80er Jahren in Nordrhein-Westfalen. Dort haben sich zuerst viele kleine und regionale Sorgentelefone gebildet, für die sich Väter und Mütter zusammengefunden haben, um jungen Menschen neutrale Ansprechpersonen zu bieten. Zum damaligen Zeitpunkt haben Kinder- und Jugendliche vermehrt häusliche Gewalt erfahren und sich oft nicht nach Hause getraut. Irgendwann haben sich dann die existierenden Sorgentelefone unter der Nummer gegen Kummer (116111) zusammengeschlossen – in Chemnitz entstand übrigens das erste regionale Telefon der Nummer in den neuen Bundesländern!“ Heute ist die Telefonadresse bundesweit gültig und umfasst insgesamt über 70 regionale Telefone. Wenn der zuständige regionale Standort nicht besetzt ist, landet der Anruf in einem großen Topf und jemand von einem anderen Standort nimmt ab.
Wie arbeiten die Berater:innen des Sorgentelefons?
„Generell organisieren sich alle Standorte in Deutschland nach den gleichen Leit- und Richtlinien. In Chemnitz ist es uns besonders wichtig, keine medizinische, therapeutische oder juristische Beratung zu machen, sondern Gesprächspartner:innen auf Augenhöhe zu sein. Unsere ehrenamtlichen Berater:innen bewegen sich in einer Altersspanne von 18 Jahren bis Mitte 70 und haben sehr unterschiedliche Hintergründe und Professionen, dadurch bringt jede:r Beratende unterschiedliche Qualitäten mit“ – so Jasmin.
Alle Berater:innen durchlaufen vor ihrer Mitarbeit eine Ausbildung, die an jedem Standort individuell gestaltet wird. In Chemnitz umfasst die Ausbildung 120 Stunden, wobei unter anderem die Möglichkeiten und Grenzen telefonischer Beratung, die eigene Rolle am Telefon, Gesprächsführung sowie persönliche Resilienz Themen sind. In einem simulierten Praxistraining werden die gelernten Inhalte anschließend geübt. Dazu werden in Zusammenarbeit mit anderen Vereinen und Projekten jugendrelevante Themen wie beispielsweise Cybermobbing, sexuelle Orientierung, psychische Krankheiten, Suizidalität, sexualisierte Gewalt oder Traumata bearbeitet.
Die Geschichte hinter der Geschichte
Die Anrufenden sind anonym – wie schafft ihr es da konkret und direkt Hilfe zu leisten?
„Ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung ist auch ein Empathie-Training, sozusagen das Erfassen der Geschichte hinter der Geschichte. Angenommen, es ruft eine Person an, die Bauchschmerzen hat. Das bedeutet nicht, dass die Bauchschmerzen auch unbedingt das Problem der Person sind, denn dahinter kann auch beispielsweise eine Gewalterfahrung stecken. Die Beratenden lernen, genau zuzuhören und auf Augenhöhe mit dem Anrufenden zu bleiben. Jede:r Anrufende leitet das Gespräch selbst. Ein erster Ansatzpunkt um Hilfe zu leisten, ist oft eine Unterstützungsperson am direkten Leidensort der anrufenden Person zu finden - zum Beispiel in der Schule, dem Sportverein oder der Familie. Wenn die Person uns ihre Postleizahl mitteilen möchte, versuchen wir zudem passende Beratungsangebote und Anlaufstellen in deren Umgebung zu finden. Es sollte allerhöchste Priorität in jeder Stadt sein, den Jugendhilfenachwuchs zu fördern und genügend Angebote bereitzustellen“ erklärt Jasmin.
Warum auch Spaß-Anrufe Ernst bedeuten können
Eure Statistik zeigt: Unter den im Jahr 2022 insgesamt 11.392 Anrufen waren 2.581 Beratungsgespräche und 4.422 alternative Kontaktversuche, kannst du erklären, was das bedeutet?
„Die Kategorie ‚Alternativer Kontaktversuch‘ beinhaltet all die Anrufe, die nicht in eine der anderen Kategorien eingeordnet werden können. Oft sind das Spaß-Anrufe, zum Beispiel wenn jemand anruft und ein Lied singt, ins Telefon schreit, sich eine fiktive Geschichte ausdenkt oder Ähnliches. Anrufer:innen fokussieren dabei oft ein spezielles Thema. Auch wenn wir spüren, dass das Thema die anrufende Person nicht direkt betrifft, bleiben wir dabei sehr ernst. Man weiß nie, warum die Person nun gerade über dieses Thema sprechen möchte. Vielleicht gibt es dabei Verbindungen zum direkten Umfeld des Anrufenden. Auch um Vertrauen in die Nummer aufzubauen, ist es wichtig, bei Spaß-Anrufen ernst zu bleiben.“
Nach der erheblichen Kritik von Chemnitzer Bürger:innen und Akteur:innen an den beabsichtigten Jugendhilfekürzungen der Stadt Chemnitz, zeigt das Gespräch mit Jasmin erneut die Dramatik dieser Ankündigung. Viele Kinder und Jugendliche haben nicht die Möglichkeit, sich adäquat jemandem anzuvertrauen und sind somit auf Unterstützungsangebote im Bereich Jugendhilfe angewiesen.
Die Nummer gegen Kummer (116111) ist Montag-Freitag von 14-20 Uhr besetzt. Weitere Angebote des Projekts ist das Programm „Jugend berät Jugend“, wobei Jugendliche ab 16 Jahren Gleichaltrige beraten. Außerdem gibt es eine E-Mail- und Chatberatung sowie ein ukrainisch-russischsprachiges Angebot für Kinder, Jugendliche & Familien.
*Name von der Redaktion geändert
Text: Katha von Sterni