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Deep Fakes sind schon lange keine theoretische Angst mehr, sie sind real gewordene Gefahr. Und auch an Chemnitzer Schulen sorgten sie für Aufschrei, auch wenn nur ein ganz stiller, der die Mauern dieser Einrichtungen eigentlich nicht verlassen sollte. So erfuhr man dennoch von dem 9. Klässler, der KI-generierte Nacktbilder seiner Mitschülerinnen und Lehrerinnen erstellte und in Umlauf brachte. Aus dem Versuch, daraus ein wohlbehütetes Schulgeheimnis zu machen, wurde ein Lauffeuer, welches sich in der gesamten Chemnitzer Schülerschaft verbreitete und weitere Vertuschungsversuche anderer Schulen ans Licht brachte.
Wie wir das herausgefunden haben? Einfach mal hinhören, wenn Jugendliche was erzählen wollen. Also haben wir unser Ränzlein geschnürt und uns via Straßeninterviews in unendliche Weiten gewagt, die anscheinend kein Erwachsener zuvor gesehen hat.
Aktuelle Studien zeigen deutlich: Die Kämpfe der heutigen Jugendlichen reichen weit über das Verständnis vieler Erwachsener hinaus.
Die Sinus-Jugendstudie von 2020 bezeichnet die aktuelle junge Generation als „ernste Generation“. Diese Zuschreibung verweist auf die zahlreichen Krisen, die ihren Alltag prägen – Umweltzerstörung, Pandemien, globale Unsicherheiten und soziale Ungleichheiten. In dieser Realität zu leben bedeutet, früh ein ausgeprägtes Bewusstsein für gesellschaftliche Herausforderungen zu entwickeln. Ernsthaftigkeit und politische Wachsamkeit sind fast zwangsläufige Reaktionen.
Gleichzeitig wächst die Akzeptanz von Diversität und ein das Bewusstsein für Diskriminierung – sei es aufgrund von Herkunft, Geschlecht, sexueller Identität oder sozialem Status. Der Wunsch, sich aktiv in gesellschaftliche Debatten einzubringen und gehört zu werden, ist stark. Doch viele junge Menschen erleben, dass ihre Stimmen nur selten tatsächliches Gehör finden – was nicht selten zu Frustration, Resignation oder eben Annäherung an populistische rechtsextreme Parteien wie die AfD führt.
Diese Ohnmachtserfahrungen treffen auf alarmierende gesellschaftliche Trends: Laut der Leipziger Autoritarismus-Studie befürworten lediglich 30 % der Deutschen uneingeschränkt die Demokratie, in welcher wir leben. Etwa ein Drittel glaubt, dass Frauen bei der Schilderung sexualisierter Gewalt zu ihrem Vorteil übertreiben würden, und meint, der Feminismus zerstöre die „gesellschaftliche Harmonie und Ordnung“. Rund 15 % halten eine Diktatur unter bestimmten Umständen für die bessere Staatsform. 60 % empfinden die Toleranz gegenüber Transpersonen als „zu übertrieben“, und in Ostdeutschland sind 46 % der Meinung, Ausländer würden den Sozialstaat nur ausnutzen.
Die Generation Z wächst in einer Zeit auf, in der Resilienz zur Überlebensstrategie wird – gegen Rassismus, Queerfeindlichkeit, Antifeminismus, Krieg und neue Formen von digitalem Hass.
Sie wird geprägt von einer gleichzeitigen Politisierung und Entmutigung: Sie erkennt die Notwendigkeit gesellschaftlichen Engagements, muss aber auch erleben, wie tief verankerte Vorurteile, soziale Spaltung und strukturelle Ignoranz die Räume für Mitbestimmung und Fortschritt einengen. Unter diesen Gesichtspunkten konzentrierten sich unsere Fragen in den Gesprächen mit Chemnitzer Jugendlichen auf die Lebensqualität in der Stadt, auf Aktivitäten und Angebote, aber auch auf Ängste und Sorgen. Die Ergebnisse hätten ähnlicher und gleichzeitig unterschiedlicher nicht sein können. Insgesamt haben wir mit knapp 50 Jugendlichen geredet und auch die Umfrage vom Jugendforum mit etwa 200 Aussagen einfließen lassen.
Über die Frage, ob die Befragten gerne in Chemnitz leben, herrscht eine ziemlich vereinigende Uneinigkeit. Manche fühlen sich sehr wohl und bringen an, dass Chemnitz eine super Größe hat, vieles anbietet und im Vergleich zu anderen Städten sehr grün ist und viele Parklandschaften besitzt.
Andere Jugendliche führen zu wenige Angebote und Langeweile, Gewalt und Unsicherheit an, was darauf hindeutet, dass sie sich eher unwohl in Chemnitz fühlen. Deutlich wird, dass die unterschiedlichen Empfindungen durch die verschiedenen Wohnorte und Stadtteile entstehen. So äußerten sich Jugendliche vom Kaßberg anders als die aus dem Heckert Gebiet.
Vielen Jugendlichen fehlen vor allem alterskonforme Orte, die sie aktiv nutzen können, darunter Cafés und Jugendclubs mit relevanten Inhalten. Fast alle Jugendlichen sind kaum bis nicht zufrieden mit den vorgesehenen Angeboten wie Jugendclubs und Workshops. Orte wie der Schlossteich und der Konkordia Park sind jedoch hoch im Kurs und wurden von den meisten Befragten als Lieblingsorte angebracht.
Im Großen und Ganzen waren die Antworten bis zu diesem Punkt zu erwarten. Die Frage nach den Ängsten und Sorgen haute uns jedoch aus den Latschen.
Rassismus, Kriege, Gewalt und Mobbing waren dabei die am häufigsten aufgeführten Sorgen. Besonders erschreckend waren auch die Klagen der weiblichen Befragten, die allesamt und in jedem Alter Angst vor Männern und Sexualisierung beinhalteten. Besonders die Innenstadt zeigt sich als Ort, an dem sich Frauen zunehmend unwohl fühlen. „Ich getraue mich nicht wirklich in die Innenstadt, weil mir hinterher gepfiffen wird und ich auf unangenehme Art und Weise angeschaut und angesprochen werde.“, erzählt eine 16 Jährige, aber auch 14 Jährige erzählten, dass sie sich dreimal überlegen, ob sie eine kurze Hose anziehen, da sie Belästigung älterer Männer befürchten.
Fast könnte man annehmen, dass die Schule dahingehend einen Safespace bietet, an dem die Schüler:innen sicher und geborgen sind. Fehlanzeige. Äußere Einflüsse und Gefahren zeigen sich auch in den Schulkorridoren, wo Rassismus, Ausgrenzung und Mobbing ebenso zum Alltag gehören, wie viele der Befragten äußern. Auch ausgeprägter Antifeminismus, der Schüler zu Aussagen verleitet, dass ihre Mitschülerinnen doch eh nichts zu sagen haben und nur hinter den Herd gehören, ist quasi alltäglich. Dazu kommt, dass Lehrer und Schulleitungen derartige Meldungen komplett ignorieren, Jugendliche allein lassen mit ihren Herausforderungen und diese sich in digitale Welten flüchten, die nachweislich Selbstbewusstsein, kritisches Denken und demokratische Werte erodieren.
Auf die Frage hin, ob die Befragten die Zukunft unserer Stadt und Gesellschaft positiv oder negativ einschätzen, war eine deutliche Tendenz ins Negative erkennbar.
Viele junge Menschen wollen nach dem Schulabschluss wegziehen, da sie sich nach dem großstädtischen Flair sehnen und die Angebote in Chemnitz nicht ansprechend finden. Ebenso macht sich die Sorge breit, aufgrund von Herkunft und Religion unzureichend Chancen am Wohnungs- und Arbeitsmarkt in Chemnitz zu haben, erzählt eine 15 Jährige Schülerin mit Kopftuch. Auf der anderen Seite sehen auch viele die Zukunft als positiv, da sie Entwicklungen beobachten, die Chemnitz voranbringen, wie die Kulturhauptstadt und damit entstehende Events wie das Kosmos.
Aber nicht nur diese Entwicklungen scheinen das Ruder rumzureißen. Obwohl die Kürzungen im Kinder- und Jugendbereich alles überschatten, unternimmt die Stadt Chemnitz vieles, um die Bedürfnisse und Wünsche der „ernsten Generation“ zu erfassen und umzusetzen. So fand zum Beispiel vor einigen Jahren eine Sondersitzung des Jugendhilfeausschusses zum Thema Coronafolgen bei Kindern und Jugendlichen statt, weil 70% der Kinder und Jugendlichen sich immer noch durch die Effekte der Pandemie beeinträchtigt fühlen. Wir halten es für essentiell, solche Sitzungen fortlaufend in die Arbeit der Jugendhilfe einzubringen. Ebenso finden Gespräche mit Bürgerplattformen statt, um herauszufinden, wo welche Bedarfe in der Kinder- und Jugendhilfe liegen und wie man diese bedienen kann. Dennoch braucht es an dieser Stelle Alarmglocken, denn die 40% AfD Wählerquote der Jugendwahl kommt nicht von ungefähr.
Wir wollen auch lieber unsere Arme in die Luft werfen und fröhlich um die Wette wedeln. Auf Jugendliche prasseln allerdings derart viele komplexe Themen ein, dass es absolut verständlich ist, dass es für sie wirkt, als wäre die Welt aus den Fugen geraten. Und sie haben Recht. Nichts davon ist “normal” und es liegt an uns und euch, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, damit wir einen neuen gemeinsamen, demokratischen und respektvollen Umgang miteinander lernen und anfangen zuzuhören.
Wer aber nicht länger darauf vertrauen möchte, dass Erwachsene die Welt retten und selbst was in Chemnitz ändern will, der findet beim Chemnitzer Jugendforum ein Zuhause.
Text: Paula Thomsen & Marco Henkel / Foto: Pexels - Olia Danilevich