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Demokratie in Chemnitz

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Am 8. Juni feierten zehntausende Chemnitzer:innen auf dem Kosmos Demokratie, Vielfalt und ein buntes und lautes Chemnitz. Keine 24 Stunden später, erhielten die rechtskonservativen Parteien AfD, Pro Chemnitz und die Freien Sachsen insgesamt 29,2% aller Stimmen und damit 18 von 60 Sitzen im Chemnitzer Stadtrat. Seitdem steht Chemnitz irgendwie still und eine allgemeine Sorge und Auswanderungsgedanken machen sich breit. Um aus der Schockstarre herauszukommen, haben wir die SPD-Stadträtin Julia Bombien und den neugewählten Stadträter der Linken André Dobrig mit Fragen beworfen, was das jetzt für Chemnitz bedeutet.

Julia Bombien ist 42 Jahre alt und hat einen Magista Artium Abschluss in Neuerer und Neueste Geschichte und Politikwissenschaften. Seit 11 Jahren ist sie Mitglied in der SPD und darüber hinaus Vorstandsmitglied von Inpeos e.V, sie engagiert sich in der Jury Chemnitzer Friedenspreis und ist Vorsitzende im Bürgerverein FÜR Chemnitz.

André Dobrig ist 38 Jahre alt. Er ist gelernter Diplom Sozialpädagoge und hat mehr als 10 Jahre in der Suchthilfe als Berater und Therapeut gearbeitet. Seit Ende 2020 ist André als leitender Bildungsreferent bei der AGJF Sachsen tätig. Erstmals kam er im Sommer 23 mit der Linken in Kontakt, kandidierte zunächst jedoch als Parteiloser für den Stadtrat.

Julia, die letzte Legislaturperiode war von Krisen geprägt. Wie erinnerst du dich?

Julia: Durch Corona hatten wir 2 Jahre lang „Ausnahmezustand“, aber Stadtrat und Ausschüsse haben fast unverändert stattgefunden. Gestaltung und Ideen für die Stadt waren allerdings aufgrund der Umstände schwierig durchsetzbar zu der Zeit. Bündnisse schließen gestaltete sich ebenfalls schwierig mit einer starken CDU, starken AfD, kleinen FDP und rot-rot-grün ohne absolute Mehrheit. Kompromisse mussten hart erkämpft werden. In den letzten zwei Jahren ging es dann hauptsächlich um die Aufnahme und Integration von Geflüchteten aus der Ukraine.

Erzähl uns doch gerne, welche Anträge, die ihr als SPD im Chemnitzer Stadtrat durchsetzen konntet, dich besonders stolz machen.

Julia: Besonders stolz bin ich auf das Konzept und die Durchsetzung der Elektrifizierung des Chemnitzer Hauptbahnhofes (Anm. d. R.: zur Durchfahrt von Akkuzügen, statt Dieselloks). Im finanziellen Haushalt konnten wir uns außerdem für den Stellenaufwuchs in der Grünpflege und Mittel für die Pflege des Kommunalwaldes stark machen. Die SPD trägt die Aufgabe, sich um den Erhalt und die Sanierung von Schulgebäuden zu kümmern, wo wir den Einbau von Schulküchen durchsetzen konnten. Als weitere Erfolge haben wir ein Stadtbeleuchtungskonzept und die Istanbul Konvention durchsetzen können, um Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt in Chemnitz zu schützen.

Wie war eure persönliche Reaktion auf die Kommunalwahlergebnisse 2024?

Julia: Ich war zunächst sehr gefasst. Am Wahlabend vor Ort, war ich eher in einer Schockstarre. Als ich dann um 3 zuhause war und noch einen Tee getrunken habe, habe ich angefangen zu weinen. Um ehrlich zu sein, haben mich die Prognosen zur Europawahl mehr entsetzt, als die der Kommunalwahl, denn das war ja zu erwarten. Ich bin eine überzeugte Europäerin und diese Ergebnisse verletzten mich sehr.

André: Bereits im Vorfeld gab es „leise“ Hinweise darauf, wie die Wahlergebnisse in etwa ausfallen werden und nach der Kommunalwahl 2019 war es für mich keine große Überraschung, auch wenn mir das Ausmaß bewusster gemacht hat, dass es jetzt wichtiger denn je ist, dagegen zu halten. Die nächsten fünf Jahre harte Arbeit, aber es ist nicht hilfreich, den Kopf in den Sand zu stecken. Ich habe Lust, die Menschen von unseren Ideen zu überzeugen, und das funktioniert nicht durch eine „Wir gegen Die-Mentalität“. Den Funken Optimismus braucht es einfach.

Zwar haben die rechtskonservativen Parteien in Chemnitz effektiv nur eine Stimme gewonnen, dennoch fühlt es sich in der Bevölkerung so an, als wäre der rechte Rand immens gewachsen. Wie und worauf bereitet man sich bei euch jetzt vor?

Julia: Auch wir können uns nur mit dem Kommunalwahlprogramm der AfD beschäftigen. Da kann man dann vorausschauend planen, wie wir Anträge stellen können, um auch der AfD präventiv den Zahn zu ziehen. In unseren Augen ist die AfD keine Partei, die sich für Demokratie einsetzt, was auch an der mitunter gesichert rechtsextremen Einstufung der Partei liegt. Wir wollen aber auch nicht durchgängig mit der Nazi Keule schwingen, denn so gewinnen wir die Leute auch nicht zurück. De facto hat die Zusammenarbeit zwischen den demokratischen Parteien in der letzten Legislaturperiode auch immer gut funktioniert. Konkrete Parteiinterne Pläne sind für die kommende Legislatur noch nicht gemacht und es gilt auch erstmal herauszufinden, wie sich das BSW verhalten wird.

André: Man kann sich das alles aber auch von der anderen Seite anschauen. Da fällt auf, dass sich 75% der Chemnitzer Wähler und Wähler:innen bewusst gegen die AfD entschieden haben. Dessen sollte man sich auch noch mal bewusst werden. In der Linken haben wir da aktuell eine „Jetzt erst recht!“-Mentalität. Wir müssen präsenter sein und den Auftrag durch unsere Wählerschaft ernst nehmen. Man merkt in der Fraktion auch einen Umbau. Mit mir zusammen gibt es einige neue, junge Gesichter in der Linken. In Chemnitz sind wir in Summe die jüngste Fraktion und 60% davon sind weiblich gelesene Personen. Durch diese Veränderungen kommt auch neue Energie zusammen. Das wollen wir nutzen und in Richtung AfD klar Position beziehen.

Laut einer dimap Umfrage haben 75% der Wahlberechtigten Angst, dass die Kriminalität zunimmt, obwohl die Kriminalitätsrate von Jahr zu Jahr sinkt. Das treibt die Wählerschaft nur noch mehr in die Arme der AfD. Wie seht ihr dieses Thema?

Julia: Die gefühlte Unsicherheit ist sicher stärker als die wirklich existierende. Es gibt dennoch ein Sicherheitsproblem und das hat die AfD genutzt, was für die demokratischen Parteien nach hinten losgegangen ist. Das können wir nicht von der Hand weisen und das hat auch etwas mit Zuwanderung zu tun. Ich finde, es wäre ein Fehler, nicht darüber zu sprechen. Die Sicherheit ist aber gegeben und man darf sie sich nicht nehmen lassen, indem man blind rechten Parolen glaubt und wir müssen weiterhin zeigen, dass “wir” mehr sind und mit Sozialarbeit und Präventionsangeboten aktiv an dieser Wahrnehmung arbeiten.

André: Ich bin mir sicher, dass es zwischen Sicherheit und Mobilität einen großen Zusammenhang gibt. Es scheint so, als würden die ganzen Kameras und Patrouillen das Gefühl von Unsicherheit nicht ändern. Außerdem finde ich es nicht zielführend, noch mehr Polizei in der Stadt patrouillieren zu lassen, was die Polizei noch unnahbarer wirken lässt. In anderen Städten wie Dresden und Wien zum Beispiel greift man auf mobile Sozialarbeiter-Stationen zurück, die ansprechbar und vermittelnd im öffentlichen Raum tätig sind. Ich denke, durch den präventiven Charakter im Sinne von Verständigung, könnte man das Gefühl von Unsicherheit reduzieren.

Widerspruch zwischen dem Lebensgefühl und der Botschaft des Kosmos und dem Wahlergebnis des nächsten Tages. Wie passt so ein Widerspruch zusammen? Und profitiert Chemnitz von genau diesem Widerspruch?

André: Die Ambivalenz ist stark spürbar. Diese wird natürlich auch von den Medien aufgegriffen. Die zwei Gesichter von Chemnitz sind für mich persönlich aber eher ein Antrieb. Wenn wir sowas wie Kosmos und Kulturhauptstadt haben wollen, wogegen ja die AfD in den letzten Jahren gestimmt hat, ist es jetzt noch wichtiger geworden, klare Kante zu zeigen und präsent und aktiv zu sein.

Julia: Für die Akteure solcher Projekte ist so ein Samstag absolut krafttankend. Klar am Sonntag ging alles dann von 100 auf 0. Aber das zeigt einfach, dass man in Chemnitz jeden Tag kämpfen muss. Glücklicherweise haben wir durch die Kulturhauptstadt auch die Pflicht, anschließend nicht sofort mit der Kultur so in dem Maße wieder runterzufahren. Bis Ende 2026 werden wir in diesem Kontext definitiv unsere Arbeit weiterhin so machen können, da die Verteilung der Gelder für Kultur nicht direkt bedroht ist. Danach wird der Kampf für die Finanzierung von, zum Beispiel, dem Kosmos härter denn je, wenn auch die Programmpunkte solcher Veranstaltungen bestritten werden.

Bevorstehenden Wahlen, wie will man dem entgegensteuern und wie kann man versuchen, die AfD-Wählerschaft vom eigenen Programm zu überzeugen?

André: Wir wollen, im Gegensatz zur AfD, komplexe Lösungsangebote aushandeln und bieten und Gegenangebote platzieren. Die Herausforderung wird es sein, das auch gut zu kommunizieren. Wir wollen für ein buntes Chemnitz und buntes Deutschland, ein Miteinander und ein gegenseitiges Verständnis zwischen den Menschen werben

Julia: Ich denke mit einer anderen Fehler Mentalität, also das Eingeständnis, nicht alles richtig gemacht zu haben, auch wenn das auf kommunaler Ebene nicht so zutrifft. Die direkte Ansprache an die Bevölkerung könnte auch eine gute Möglichkeit sein und ebenfalls Probleme zu benennen, auch wenn sie für einen selbst unbequem sind, zum Beispiel bei der Einrichtung des Sicherheitspunktes an der Zentralhaltestelle. Es wird aber auch immer Menschen geben, die wir nicht erreichen werden. Die SPD Fraktion im Stadtrat hat vielleicht nicht gewonnen, aber auch nicht verloren und bleiben ansprechbar und sichtbar.

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