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Der Apfel, dein Nachbar

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Was bitte haben schnöde Apfelbäume mit Kultur zu tun? Ganz viel, denn der Apfel wird in Chemnitz nun so weit auslegend als Symbol gedeutet, wie seit dem Alten Testament nicht mehr.

Kulturhauptstadt Europas 2025 - was soll das werden? Diese Frage stellen sich viele Menschen. Dabei steht die Antwort im sogenannten Bidbook drin. 54 Projekte sind dort aufgeführt und da es bis 2025 noch ein bisschen Zeit ist, stellen wir von nun an eins in jeder 371-Ausgabe vor.

Diesmal: We Parapom

Die Chemnitzer Kulturhauptstadt-Bewerbung enthielt einige Superlative, die Einheimische verwundern ließen, die europäische Jury aber begeisterten. So sollen 2025 nicht nur 3000 Garagen mit Kunst und Aktion gefüllt werden, auch 4000 neue Apfelbäume sollen im Frühjahr blühen. Aber warum? Was bitte haben schnöde Apfelbäume mit Kultur zu tun? Ganz viel, denn der Apfel wird in Chemnitz nun so weit auslegend als Symbol gedeutet, wie seit dem Alten Testament nicht mehr.

Aber der Reihe nach: Der Titel des Apfel-Projekts lautet vollständig „We Parapom – Kollektive europäische Parade der Apfelbäume“. Da steckt schon mehr drin als in einem einfachen Apfelkompott. Kollektiv steht für den Mitmach-Charakter des Projekts, europäisch beschreibt zum einen die Diversität der zu pflanzenden Apfelsorten, zum anderen die Beteiligung international agierender Künstler*innen, Parade verweist auf die festgelegte Route, an der die Pflanzungen stattfinden sollen.

Die Idee dazu hatte im Frühjahr 2020 die Künstlerin und Kuratorin Barbara Holub. „Der Apfel war schon da, auch diese Zahl. Aber es ging eher in Richtung Streuobstwiesen und hatte noch kein künstlerisches Konzept“, beschreibt die Österreicherin. „Als ich in Chemnitz ankam, faszinierten mich diese breiten Aufmarschstraßen. Die waren ja als Orte für Paraden als Machtdemonstration angelegt worden. Das wollte ich aufgreifen. Jetzt sollen die Apfelbäume, die Natur, demonstrieren“, erklärt sie lächelnd im schönsten Wienerisch.

Die Apfelbäume sollen aber nicht auf den überdimensionierten Chemnitzer Innenstadt-Straßen „demonstrieren“, sondern querfeldein, „über Grundstücksgrenzen hinweg, auf privaten und öffentlichen Flächen, von Hilbersdorf über das Yorckviertel, Gablenz / Hans-Beimler-Wohngebiet zum Stadtzentrum, über den Stadtpark und Alt-Chemnitz und weiter zum Fritz-Heckert-Gebiet“, heißt es auf der Projektwebsite weparapom.eu. So sollen die 4000 Bäume gepflanzt werden – zwei pro Sorte, also wiederum 2000 verschiedene Sorten. Pflanzen, hegen, pflegen und eventuell ernten sollen nicht etwa Mitarbeiter*innen des Grünflächenamts, sondern die Bürger und Bürgerinnen selbst. In ihrem Garten, auf Brachflächen, Wiesen und in Hinterhöfen. Auch Unternehmen, Vereine oder andere Institutionen sollen zum Pflanzspaten greifen. Wer nicht am Paradenweg anliegt, kann sich per Patenschaft einbringen.

Kritiker monierten schon bei Bekanntgabe, dass der Apfelbaum kein Stadtbaum sei. Der Baum mag die Stadt mit all den Straßen und Beton, den zugigen Windschneisen und aufgeheizten Plätzen nicht. Auch sei er als „Begleitgrün“ mit seiner Lebensdauer von nur 30-40 Jahren eher uneffektiv. Dagegen zitiert Barbara Holub das Huhn-Ei-Paradoxon und verdeutlicht den bestimmenden ökologischen Aspekt des Projekts, zum Beispiel durch die vielen für die Pflanzungen notwendigen Flächenentsiegelungen. So wird schon im November eine erste künstlerische Aktion stattfinden, die genau das zum Inhalt hat. Mit „Testphase 4“ lädt Folke Köbberling Interessierte ein, bei zehn Entsiegelungen dabei zu sein. Sie sollen Asphalt in kleinste Teile zerlegen und so „den Kraftakt, den unter normalen Umständen ein Presslufthammer erbringt, nachvollziehen können.“

Welche weiteren Kunstaktionen folgen, steht noch nicht fest, die Künstler*innen dazu hat Barbara Holub aber schon ausgewählt und angesprochen. So wird die Paradiesfrucht im Laufe der Jahre immer wieder Anlass für niedrigschwellige Kulturerlebnisse sein. Dabei werden nicht nur geschmackliche Fragen diskutiert, der Apfel dient vielmehr als Start, um über Nachhaltigkeit, Ressourcenverbrauch oder Migration nachzudenken.

Das Kulturhauptstadt-Jahr selbst beginnt im Frühling mit einem großen Apfelblütenfest und endet im Herbst, wenn sich die Chemnitzer*innen gegenseitig mit Apfelkuchen bebacken. Das werden dann aber kaum die Früchte der frisch gepflanzten Apfelbäume sein, schließlich trägt er frühstens nach drei Jahren. Barbara Holub betont in diesem Zusammenhang noch einmal die Langfristigkeit des Projekts: „Bis 2025 werden vielleicht nicht alle 4000 Bäume gepflanzt sein.“ Sie verweist auf ein berühmtes Referenzprojekt, die 7000 Eichen, die Joseph Beuys ab 1982 anlässlich der documenta in Kassel pflanzen ließ. „Auch die wurden nicht alle auf einmal gepflanzt.“

Die beuysschen Eichen stehen heute unter Denkmalschutz und leisten einen wichtigen Beitrag zum Kasseler Stadtklima. Joseph Beuys titelte damals eher konfrontativ mit „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“. Die „Europäische Parade der Apfelbäume“ will vereinen. Und mal ehrlich: Kennst du jemanden, der Äpfel nicht mag.

weparapom.eu

Text: Lars Neuenfeld

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