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Edvard, der kleine Kunstvampir

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Sagt mal, wart ihr denn schon in der Munch-Ausstellung in den Kunstsammlungen? Ich kann es nur empfehlen – genauso wie Edvard.

Der hat es nämlich extra schwer, da hineinzukommen! Aber eines nach dem anderen.

Edvard ist erst einhundertzweiundreißigeinhalb Jahre alt, was für ein Vampir noch kein Alter ist. Seine Eltern lieben ihn über alles, auch seine Macken: zum Beispiel, dass er als veganer Vampir lieber Blutorangen isst und Tomatensaft trinkt. Oder dass er die Kunst liebt, die die Menschen so machen.

Das Problem aber ist: Vampire sind nachtaktive Wesen. Bei Tag schlafen sie in dunklen Ecken und erst bei Nacht sind sie zu Fuß oder als Fledermaus unterwegs. Edvard musste also warten, bis es endlich dunkel genug war, um in die neue Ausstellung in den Kunstsammlungen gehen zu können. Denn die macht 18 Uhr zu und erst im Oktober ist es um die Uhrzeit dunkel genug.

Die neue Ausstellung weckte seine Neugier, weil es um jemanden geht, der so heißt wie er: „Edvard”. Mit Fledermaus-V! Bei Vampiren ist dieser Buchstabe sehr beliebt, schließlich sind sie ja keine Wampire.

Kurz bevor die Kunstsammlungen schließen, verwandelt sich Edvard also in eine Fledermaus und huscht, als sich die Tür öffnet, hinein. Die gehenden Menschen sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihn nicht bemerken. Edvard flattert einfach nach oben, ohne die Treppe zu benutzen, und hängt sich, geschickt verborgen, an einen Giebel. Von hier aus kann er die Türen zur Ausstellung beobachten. Als eine größere Gruppe sie verlässt – bestimmt eine Führung – kann Edvard bequem hineinfliegen. Die Ausstellungsräume sind hoch und niemand entdeckt ihn. Nun

wartet Edvard, bis alle Menschen weg sind. Nachdem der letzte Kontrollgang der Nachtwächter, ob sich auch niemand hinter einem Bild versteckt, beendet war, schwebt der kleine Vampir zu Boden. Hier verwandelt er sich wieder in seine normale

Gestalt, seufzt voller Vorfreude und beginnt, die Bilder zu betrachten. Edvard gefällt, was er sieht. Die Gemälde und Drucke sind so traurig- schön, schmerzlich-süß und düster-romantisch – genau das Richtige für ihn. Es gibt sogar zwei Bilder, die selbst „Vampir” heißen. Bei den Bildern wäre Edvard rot geworden, wenn er es könnte. Von seiner Mutter hatte er oft gehört, wie sie seinen Vater kennengelernt hatte. Wie leidenschaftlich sie sich zuerst küssten, wie ergeben er sich beißen ließ. So peinlich! Aber Edvard staunt darüber, wie genau der Maler das Paarungsverhalten von Vampiren zu kennen schien. Edvard holt seinen Zeichenblock und einen Kohlestift aus seinem schwarzen Mantel, setzt sich auf den Boden und beginnt, das Gemälde nachzuzeichnen: Das will er Mama zeigen! Was er aber über seiner Begeisterung vergisst: Auf den Überwachungskameras sieht man zwar nicht ihn – so wie man Vampire ja auch nicht in Spiegeln sehen kann – wohl aber einen Block und einen Stift, die geheimnisvoll durch die Luft schweben. Es dauert nur wenige Minuten, bis der Nachtwächter sich die Augen vor Verwunderung fertig gerieben und auf den Weg in die Ausstellung gemacht hatte. Als Edvard bemerkt, dass sich ihm jemand nähert, muss er die Zeichenmaterialien wegstecken und sich zurück in eine Fledermaus

verwandeln. Der Nachtwächter wundert sich, aber der schwebende Block ist verschwunden. „Kaum ist Oktober, sehe ich Gespenster”, murmelt er kopfschüttelnd in sich hinein. Beim Gehen hängt sich Edvard an die Rückseite der Jackennaht des Nachtwächters und schlüpft so ungesehen heraus. Edvard sieht ein, dass er sich die andere Seite der Ausstellung heute nicht mehr würde ansehen können. Aber vielleicht morgen? Bis 2. November zumindest hat er ja noch Zeit.

Text: Marcus Lehmann

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