⚠ Diese Webseite wurde nicht für Internet Explorer 11 optimiert. Wir empfehlen Mozilla Firefox , Microsoft Edge oder Google Chrome.

Anzeige
Das Web-App-Mag
Immer auf Tasche

Magazin

Ein Jahrzehnt zwischen Fragilität und Fortschritt

Veröffentlicht am:

Ein Jahrzehnt zwischen Fragilität und Fortschritt

Ganz Chemnitz spricht darüber – und längst reicht die Schlange vor dem Museum bis um den Block: Die große Kulturhauptstadt-Ausstellung „european realities“ im Gunzenhauser Museum sorgt deutschlandweit für Furore. Klar, dass auch wir uns das Spektakel nicht entgehen lassen wollten.

———————

Die 290 Kunstwerke der Ausstellung entführen uns in die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Also in eine Zeit, die sich auf einem schmalen Grat zwischen Aufschwung und Elend befindet in einem fragilen Europa, das sich von einem Weltkrieg erholt, der 50 Millionen Menschen mit sich in den Abgrund zog.

Der Erste Weltkrieg war ein tiefer Einschnitt – politisch, gesellschaftlich und kulturell. Ein ganzer Kontinent taumelte traumatisiert aus den Schützengräben. Was folgte, war ein völliger Wandel der politischen Landkarte Europas, Reiche zerfielen, Monarchien stürzten und neue Staaten gründeten sich.

Doch bei aller Unsicherheit brachte die Zwischenkriegszeit auch Dynamik, Innovation und Aufbruch. Die europäischen Metropolen wandelten sich rasant. Technik hielt Einzug in den Alltag: Das Radio wurde zum Massenmedium, Kinosäle füllten sich, Sportevents entwickelten sich zu publikumswirksamen Großereignissen. Cafés, Theater, Clubs – das städtische Leben blühte auf, und mit ihm der Wunsch nach Teilhabe, Vergnügen und Selbstverwirklichung.

Während wir durch die Ausstellung flanieren und uns Etage für Etage vorarbeiten, werden unsere Gedanken immer lauter. Selten war Geschichte so nah und spürbar. Auf Etage zwei verlangsamen wir unsere Schritte und widmen uns den Menschenbildern, die sich zwischen den großen Kriegen mitunter veränderten.

Die Zeit um und nach dem Ersten Weltkrieg bedeutete einen tiefgreifenden Wandel für Frauen – mit einem Spannungsverhältnis zwischen Fortschritt (Wahlrecht, Berufstätigkeit, neue Lebensentwürfe) und Rückschritt (Verdrängung nach Kriegsende). Die “Neue Frau” mit Kurzhaarschnitt, Zigarette in der Hand und weiter Hose wurde zum Symbol dieser Umbruchszeit: selbstbestimmt, sichtbar und oft kulturell aktiv – jedoch nur für eine privilegierte Minderheit erreichbar.

Selbst 100 Jahre später ist die Schlacht für Frauen noch immer im Gange. Sie haben erst gewonnen, wenn Forderungen nach Gleichberechtigung nicht mehr belächelt, sondern endlich ernst genommen werden.

Aber es war nicht nur der typische Bubikopf, der strenge Geschlechterzuschreibungen aufbrach. Wer scheinbar ebenfalls nicht in das patriarchale Weltbild reinpasste, waren Transmenschen, über deren Daseinsberechtigung aus irgendeinem Grund bis heute immer noch diskutiert wird.

Im ausgestellten Werk von Gerda Wegener „In der Hitze des Sommers (Lili) von 1924 staunen wir über die Geschichte der ersten Transgender-Pionierin Lili Elbe. Eine mutige Frau, die ab 1930 als eine der ersten Personen weltweit eine Geschlechtsangleichung vollzog. Doch der Preis war hoch: Lili Elbe starb 1931 an den Komplikationen dieser Operationen. Ihr Weg war kurz, aber bahnbrechend. Sie war nicht nur eine Frau, sondern ein Mensch, der für seine Identität alles riskiert hat - und ist damit heute aktueller denn je.

2021 wurden in Deutschland etwa 2.500 Geschlechtsangleichungen durchgeführt und die Zahlen steigen jährlich. Das Selbstbestimmungsgesetz, das 2024 in Kraft trat, zeigt endlich einen gesellschaftlichen und politischen Fortschritt, auch wenn immer noch viel zu tun ist.

Ihr seht, man kann die Ausstellung kaum verlassen, ohne dass einem der Kopf raucht. Wir gehen nach Hause und sind dankbar, fühlen uns gleichzeitig aber auch, als hätte uns die Realität eine schallende Ohrfeige verpasst.

Beim Blick zurück auf die 1920er und 30er-Jahre wird einem schnell klar: Vieles von dem, was damals geschah, fühlt sich heute erschreckend vertraut an. Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Frieden wirken wie eine Selbstverständlichkeit, sind aber keine festen Größen, die stets neu verhandelt werden müssen. Das sind allerdings nur unsere Gedanken. Macht euch ruhig euer eigenes Bild. Bis 10. August könnt ihr noch im Gunzenhauser zu “european realities” über die Lehren der Vergangenheit und unsere mögliche Zukunft sinnieren.

Hear the unseen. Im Juni wird Chemnitz zur Bühne für Musik, Tanz, Protest und Diskurs.

Text: Paula Thomsen

Zurück