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Im Reitbahnviertel versucht die Stadt neue Wege zu gehen - und droht schon am Start zu scheitern
Weniger Einwohner, viel Leerstand - das sind bekannte Chemnitzer Tatsachen. Ideen, um ein weiteres Absacken diverser Quartiere zu verhindern, waren bisher wenig kreativ. Abriss war noch die gängigste Methode, angeblich um überschüssigen Wohnraum vom Markt zu nehmen. Doch nun wollen die Stadtplaner ein neues Konzept wagen. Im Reitbahnviertel sollen "experimentelle Karrees" ungenormtes Wohnen möglich machen.
Bis vor zwei Jahren gab es noch gar kein Reitbahnviertel. Zumindest kein so betitelter Stadtteil, erst 2006 taucht das Gebiet zwischen Schauspielhaus und Weltecho, Tietz und Südbahnhof als Entwicklungsareal auf. Der Grund: Nach der absehbaren Fertigstellung der Innenstadtbebauung fällt dieses Gebiet als naheliegendster "Schandfleck" ins Auge. Direkt hinter den neuen Fassaden von Tietz und Moritzhof wurde ein Problemviertel ausgemacht. Wo 1996 noch 4000 Menschen wohnten, sind heute nur ca. 2000 übersichtlich verteilt. Doch wenn die Innenstadt langfristig pulsieren soll, müssen mehr Menschen hier leben - darin liegt das Entwicklungspotential des Viertels. Doch noch ein Aspekt zog das Reitbahnviertel in den Fokus der Stadtplaner: Seine Lage fungiert quasi als Bindeglied zwischen Innenstadt und Campus. Nichts sehnt man mehr herbei, als dass die 10.000 Chemnitzer Studenten und Studentinnen endlich präsenter im Stadtbild werden. So kommt der Entwicklung des 43 Hektar großen Stadtteils eine herausgehobene Stellung zu und diese wird nun mittels Konzept und Fördergeld vorangetrieben.
Das Entwicklungskonzept sieht zunächst einige tiefenkosmetische Massnahmen vor. Die Reitbahnstraße soll eine Fahrspur verlieren, der mittige Gleisstreifen verfüllt werden und damit nicht mehr zerschneidend wirken. Viel Grün vor den Häusern, am Annenplatz und an der Reitbahnstraße soll für mehr Behaglichkeit sorgen. Spannender wird es hinter den ersten Wohnblöcken: So sollen an der Brauhausstraße Klein- und Gemeinschaftsgärten für Bewohner entstehen. Es dürfte deutschlandweit einmalig sein, dass nur wenige Meter von einer innerstädtischen Downtown Laubenpieperromatik aufkommen könnte. Doch man möchte noch mehr wagen: Der Komplex zwischen Bernsbachplatz, Clara-Zetkin- und Fritz-Reuter-Straße soll als "experimentelles Karree" das Herzstück unkonventioneller Stadtplanung sein. Entstanden ist diese Idee nämlich nicht am Beamtenschreibtisch, sondern als Ergebnis mehrerer Workshops vorort. Hier waren Bewohner und Interessierte eingebunden, Jugendliche genauso wie Senioren. Was mit den "experimentellen Karrees" tatsächlich gemeint ist, bleibt noch offen für weitere Ideen. Preiswerte Wohnungen zum Selbstausbau gehören dazu, auch kleinteiliges Gewerbe, gern mit Kunst- und Ateliercharakter. Ein großer Abenteuerspielplatz, Kunstprojekte und eine Gastronomie mit Freisitz könnten den neuzuschaffenden Fritz-Reuter-Platz beleben. Weitere Visionen sollen den "Apollokiez" beleben, ein von schönen, noch unsanierten Gründerzeithäusern und Altneubauten gekennzeichntes Gebiet zwischen Gustav-Freytag-Straße, Südbahnhof und Apollostraße. Das alles klingt für Chemnitzer Verhältnisse recht revolutionär. Doch das Ziel wird mit viel Fördergeld aus Brüssel und Berlin anvisiert. Am 26. November wird der Stadtrat über diese prinzipielle Stoßrichtung entscheiden (Entscheidung bei Redaktionschluß noch nicht bekannt), doch unabhängig vom Paralamentsvotum könnte das ehrgeizige Vorhaben noch vor Beginn scheitern.
Der Grund: Die Stadt kann planen wie sie will, aber ihr gehört kein einziges Haus im Areal, speziell nicht in den "experimentellen Karrees". Mehrheitlich ist die GGG Eigentümer. Die gehört zwar wiederum der Stadt, doch Mutti ist der großen Tochter hier nicht weisungsberechtigt. Die GGG will möglichst schon 2009 dieses Karree verkaufen. Dazu gehört natürlich auch das alternative Wohn- und Kulturprojekt ReBa84. "Unbewohnt und ungenutzt" wolle man das Objekt verkaufen, so GGG-Mitarbeiter Rocco Brüsch bei einem der Workshops im September 2008. Mittlerweile wurde dem Verein zur Wiederbelebung kulturellen Brachlands e.V., Träger des ReBa84-Projekts, ein wesentlich kleineres Ausweichobjekt in der Ritterstraße angeboten. Das liegt aber außerhalb der "experimentellen" Konzepte. Damit sabotiert die GGG die Stadtpläne nachhaltig, denn ohne jene Versuchanordnung rund um oben genanntes Areal ist die Aufwertung des Reitbahnviertels nicht mehr als solides Planerhandwerk zwischen Verkehrsberuhigung und ein paar Bäumen. Schon einmal gelang es der GGG erfolgreich, die eigenen kommerziellen Interessen vor bürgerschaftliche Initiativen zu schieben. Der Brühl ist zwei Jahre nach heftigen Diskussionen, zahlreichen Kunstprojekten und vielen zerplatzen Hoffnungen keinen Entwicklungsschritt weiter gekommen. Auch hier behaarte die GGG auf ihr Verkaufsinteresse, das übrigens, auch im Zuge der weltweiten Finanzkrise, bisher weitgehend fruchtlos verlief. Eine Konfrontation scheint unausweichlich. Volkmar Zschocke, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Stadtrat, erklärt mit Blick auf das Schlüsselobjekt ReBa84: "In der Reitbahnstraße 84 haben Chemnitzerinnen und Chemnitzer damit begonnen, konkrete Verantwortung für Gebäude und Stadtteilentwicklung zu übernehmen. Wir fordern die GGG auf, diesem Verein das Haus nun auch längerfristig zu überlassen!"
So wird für die Stadt der Ratsbeschluß zum Reitbahnviertel zum endgültigen Lakmustest, ob nun das Stadtparlament oder die kommunale Grundstücksgesellschaft die Entwicklung sensibler Areale bestimmt. Ende der 90er Jahre war es gerade der Schulterschluß von OB Peter Seifert auf der einen und GGG-Chef Peter Naujokat auf der anderen Seite, der bahnbrechende Bauvorhaben in der Innenstadt ermöglichte (Rathaus-Passage, Tietz). Es scheint, als wäre diese Partnerschaft unter den Nachfolgerinnen Barbara Ludwig und Simone Kalew nunmehr recht kraftlos. Aber noch ist nicht alles verloren. Zwar plant die GGG Verkäufe im großen Stil, doch erstens ist auf dem Immobilienmarkt im Moment nicht sonderlich viel zu holen und zweitens kann mittels vieler Ideen das Konzept der "experimentellen Karrees" so stark werden, dass die GGG dem öffentlichen Druck nachgeben muss. Immerhin: Fördermittel aus dem Europäischen Fonds regionale Entwicklung (EFRE) scheinen großzügig zum Einsatz kommen zu können. Letztmalig, denn ab 2013 wird Chemnitz wie weite Teile Ostdeutschlands aus der höchste Brüssel-Förderstufe herausfallen. Danach dürften derart ambitionierte Projekte kaum noch umsetzbar sein.
Tipp: Unter www.reitbahnviertel.de findet man zahlreiche Ansprechpartner.
Text: Lars Neuenfeld
Erschienen im 371 Stadtmagazin 12/08