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Marx ist nicht Marx

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Am 9. Oktober 1971 wurde das Karl-Marx-Monument eingeweiht. Das 50. Jubiläumsjahr feiert man in der Stadt. Zu Recht, denn der Kopf ist Kult. Karl Marx hat damit nichts zu tun.

Offiziell wurde verlautbart, dass zur Einweihung 250.000 Menschen anwesend waren. Das entspricht in etwa der damaligen Einwohnerzahl von Karl-Marx-Stadt. Also waren alle da, was nicht stimmen kann, denn mein Opa zum Beispiel war nicht dabei, sagt er. Die Zahl war sicher übertrieben und es ist falsch zu glauben, dass die Bürger und Bürgerinnen dieser Stadt damals dieses monströse Ding mochten. Dieses Monument war nicht schön, es war absurd. Derlei Absurditäten mochte man in der Arbeiterstadt sicher nicht und so bestand die Gefahr, dass dieser Kopf mit der politischen Wende 1990 nicht nur sprichwörtlich auf dem Müllhaufen der Geschichte landet, sondern ganz konkret im Altmetallhandel. Eine Skurrilität im Lauf der Zeit verschaffte ihm aber eine Atempause.


War es nicht erstaunlich, dass die massenhaften (das waren wirklich viele) Proteste, die zum Sturz der SED führten, ausgerechnet am Marx-Monument stattfanden? Eigentlich nicht, denn zwischen dem Kopf und dem Gebäude dahinter gibt es nicht nur einen Werk-Zusammenhang. In dem im Volksmund als Parteisäge bezeichneten Gebäude saß die SED-Bezirksleitung, also der richtige Adressat für die Proteste. Und so versammelten sich die Demonstrant*innen, möglicherweise auch aus Gewohnheit, am Kopf. Sein Glück vielleicht, dass er so schwer war, so konnte niemand auf die Idee kommen, ihn vom Sockel zu stoßen.

Seine Riesenhaftigkeit war sicher auch ein Grund, dass die damalige Diskussion um den Abbau nie ernsthaft geführt wurde. Es hätte viel Geld gekostet, ihn abzutransportieren und zu entsorgen. Doch Geld war knapp, auch weil in dieser Zeit, den 1990ern, nahezu alle großen Betriebe der Stadt schlossen. Auch da kam der Marx-Kopf zu seiner Ausnutzung. Immer, wenn gegen Entlassungen, Schließungen oder dem Verramschen der DDR-Wirtschaft zu protestieren war (und das war oft), zog es die Belegschaften vor die grimmigen Blicke des Philosophendenkmals. Eine Anwendung kommunistischer Ideen (Enteignung z.B.) hat damals aber niemand gefordert. Das zweite Leben des Marx-Monuments war schon deutlich von der Abkehr seiner einst eingeschriebenen Ideenwelt gekennzeichnet. Bis heute wird hier gegen oder für alles mögliche auf die Straße gegangen. Die Weltpresse rieb sich verstört die Augen, als sie die Bilder vom August 2018 im Ticker hatte, darauf Tausende Nazis und im Hintergrund ein riesiger Kommunist. What? Ja, Chemnitz ist anders.

Gegen Ende der 1990er, als alles zu war und kaum noch jemand Lust zum Demonstrieren hatte, begann die Phase der Banalisierung. Quasi die ganzen Nullerjahre hindurch gab es Kräfte, die gern „Stadt mit Köpfchen“ als Chemnitz-Headline gesehen hätten. Ein großes Glück, dass diese Albernheit an uns vorbeiging. Nicht verhindert werden konnte aber der Nippes, der fortan in Marx-Form Gestalt annahm. USB-Stick, T-Shirts, Beutel – bis heute ist seine konsumistische Instrumentalisierung nicht auserzählt. Sicher, ganz sicher, werden in den nächsten Jahren hier noch große Innovationen folgen. Sie alle sichern dem Giganten an der Brückenstraße ein langes Leben. Doch über seine Funktion als Produktvorlage hinaus hat er heute, quasi in der vierten Phase seines Daseins, ein ikonografisches Eigenleben entwickelt.

Das hat ganz viel mit Facebook, noch mehr aber mit Instagram und mittlerweile TikTok zu tun. Das Karl-Marx-Monument ist, ohne es nachzählen zu müssen, das meistfotografierte Objekt der Stadt. Jede*r, aber auch jede*r, fotografiert es, gern im Selfie-Style. Ich war hier. In dieser komischen Stadt mit diesem komischen Riesenkopf. Und das Komischste: Diese Stadt wird nun Europäische Kulturhauptstadt. Like. Musst du sehen.

So viralisiert sich das Kerbel-Kunstwerk durch die Welt. Als erstes Symbol einer Stadt, die sich gerade versucht, neu zu erfinden. Es könnte schönere Symbole geben, aber der Nischel, wie ihn heute kaum noch einer nennt, ist nicht in dieser ästhetischen Kategorie zu verorten. Er ist cool, nice und vor allem wahnsinnig instagramig. Karl Marx muss das egal sein.

Text: Lars Neuenfeld

Interessantes zur Geschichte ist gerade auf chemnitz.de gesammelt worden.

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