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Es waren die spätsommerlichen Tage Ende August und Anfang September 2018, die in Chemnitz alles veränderten.
Der Mord an Daniel H. auf der Brückenstraße (Zwischen dem Dönerladen Alanya und dem Chillhouse) durch zwei Asylbewerber wurde instrumentalisiert und medial zerfleischt. Anstatt ihn zu betrauern und sein menschliches Engagement, das ihm letztlich sein Leben kostete, zu ehren, versammelten sich Hunderte Neonazis aus ganz Deutschland quasi über Nacht und verwandelten die Innenstadt in ein Kampffeld gegen Polizei und vermeintlich migrantisch aussehende Menschen. Sie traten, hetzten, schlugen und von einem auf den anderen Tag war nichts, wie es einmal war.
An jenen Tagen entschlossen wir uns immer wieder, wie viele weitere Menschen, unter dem Motto „Herz statt Hetze“ der inzwischen still gewordenen Nazi-Mauer vor dem Karl-Marx-Kopf entgegen zu treten, die der Einladung von AfD, Pegida und Pro Chemnitz folgten. Es war eigentlich wie immer. Gegendemonstrationen waren uns bekannt. Wir hatten gute Laune, Kuchen und eine Entschlossenheit, die Tausende fremde Menschen verband. Und wir fühlten uns sicher, hinter der Mauer an Polizeiautos. Was verrückt war, denn wir, die „Linken“, waren es, die eingekreist wurden, während uns gegenüber Aberhunderte von Faschisten standen, die jeden Moment das Gleichgewicht zum Kippen bringen konnten. Und von einer auf die andere Sekunde rannte ein vermummter Mob auf uns zu und durchdrang die Polizeibarrikade. Es glich einem Film, einem Horror, den man so noch nie erlebt hat. Wie in Zeitlupe wurde Pyrotechnik gezündet und Wasserwerfer positionierten sich. Das Vertrauen darin, wer neben einem stand, war weg. Alles war durchmischt und wir rannten, versuchten, uns in Sicherheit zu bringen. Wir setzten auf die Polizei und absurderweise auch auf den schwarzen Mob Linksextremer, der sich bereit machte, sich den Nazis in den Weg zu stellen.
Es war einer diese Tage, an denen ein Großteil von uns mit einem Schrecken davonkam. Aber eben nur ein Teil von uns. Innerhalb einer Woche dokumentierte die Opferberatung SUPPORT der RAA Sachsen e.V. 48 rassistisch, antisemitisch und rechts motivierte Angriffe in Chemnitz. Unter anderem eine Gruppe mit dem Schild „Chemnitz ist weder grau noch braun“ wurde beleidigt, geschlagen und getreten. Und obwohl die Betroffenen diesen Angriff sofort meldeten, die Polizei, die Tätergruppe wenige Minuten später aufgriff und Beweise vorlagen, erhob die Staatsanwaltschaft vier Jahre später erstmals Anklage gegen 19 Rechte und Neonazis wegen gefährlicher Körperverletzung und schweren Landfriedensbruchs. In dem folgenden und ersten Verfahren Ende 2023 wurden alle Angeklagten freigesprochen. Am 13. Mai 2025 begann dann der zweite Prozess, der ebenfalls die Ausschreitungen 2018 in Chemnitz verhandelte und im August 2025 mit drei Freisprüchen und einer Einstellung des Verfahrens endete. Um es mit den Worten von Rechtsanwältin Dr. Kati Lang, die im zweiten Verfahren einen Chemnitzer Nebenkläger vertrat, auszudrücken: „Dieses Verfahren ist ein Freifahrtschein für den randalierenden rechten Mob. Erst wird schlampig ermittelt, dann das Verfahren jahrelang durch die Justiz verschleppt und schlussendlich freigesprochen. Wer so gegen rechte Gewalt vorgeht, braucht sich nicht zu wundern, dass Chemnitz als Eldorado für die bundesweite Neonaziszene erscheint“
Die juristische Nachlässigkeit nach 2018 ist kein Einzelfall, sondern Teil eines größeren Problems - dem strukturellen Wegsehen gegenüber rechter Gewalt in Deutschland. Was beim NSU begann, setzt sich bis heute fort.
Ende der 1990er-Jahre wurde Chemnitz unfreiwillig zum Rückzugsort für den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU). Unterstützt von hiesigen rechten Netzwerken tauchten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe im Fritz-Heckert-Gebiet unter. Hier lebte das Trio im Verborgenen, plante im Schutz der Szene seine weiteren Schritte und finanzierte sich durch Raubüberfälle. Chemnitz wurde damit zu einer wichtigen Station auf dem Weg zur späteren Mordserie des NSU – ein dunkles Kapitel, das bis heute Fragen nach den Strukturen der rechten Szene in der Stadt und ihrer Verantwortung aufwirft. „Das aktuelle Urteil des zweiten Verfahrens knüpft an eine Kultur der Straflosigkeit in Bezug auf neonazistische Gewalt an, die sich auch im NSU-Komplex widerspiegelt. Bis heute wurde nur eine Person aus dem sächsischen Unterstützungsumfeld der Neonaziterrorzelle juristisch belangt. Sehr viele mehr haben jedoch dazu beigetragen, dass der NSU unentdeckt töten konnte. Es ist schon klar, dass dem Phänomen Neonazismus nicht allein juristisch beizukommen ist. Aber gerade da haben wir immer wieder den Eindruck, dass zentrale demokratische Institutionen ihrer Verantwortung nicht nachkommen.“, bedauert Jörg Buschmann, Projektleitung „Offener Prozess“ des NSU Dokumentationszentrums am Johannisplatz. Welches im Zuge der Kulturhauptstadt Europas 2025 und nach jahrelanger Planung im Mai entstand. Der Ort versteht sich als Erinnerungs- und Bildungsstätte: Er soll die Namen und Geschichten der Menschen wachhalten, die durch den NSU ermordet wurden, und zugleich eine Anlaufstelle für Austausch und Aufklärung bieten. Neben dem Gedenken geht es um Aufarbeitung – um die Hintergründe des NSU-Komplexes, die Versäumnisse von Behörden und Gesellschaft sowie die Lehren, die sich daraus ziehen lassen. Denn der NSU-Komplex markiert eine Zäsur im Umgang Deutschlands mit Rassismus und Rechtsterrorismus. Das Zentrum will diese Fragen nicht nur historisch betrachten, sondern auch in die Gegenwart übersetzen: als Beitrag zu einer offenen Stadtgesellschaft, die sich ihrer Verantwortung bewusst ist.
Die Ereignisse, von denen wir an jenen Tagen im Spätsommer 2018 Zeugen wurden, sind unvergesslich. Grauenhaft und hoffnungsvoll zugleich. Es waren jene Tage, die uns als Stadtgesellschaft vereinten und uns letztlich den Titel zur Kulturhauptstadt Europas 2025 sicherten. An der Stelle, einfach die offene Frage zum Schluss: Was ist von den guten Vorsätzen für 2025 wirklich geblieben?
Text & Foto: Paula Thomsen