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"Ganz oder gar nicht"

Chemnitzer Guerilla-Werber im Interview

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Kurz nach Vorstellung der neuen Chemnitzer Imagekampagne tauchten gestalterisch identische Plakate auf, die inhaltlich jedoch den Finger in die offenen Wunden der Stadt legten. Abriss, Wegzug, Visionslosigkeit wurden ironisch thematisiert. Seitdem rätselt man in der Stadt, wer hinter dieser Antikampagne steht. 371 gelang höchst konspirativ ein Interview mit den Machern, allerdings auch anonym.

Warum wollt ihr weiter anonym bleiben?
Doxophobie, Enosiophobie und ein bisschen Helminthophobie.

Nur kurz zur Verortung: Ihr seid Chemnitzer und wohnt auch noch hier?
So ist es.

Eure Plakate wurden nur wenige Tage nach dem Start der offi ziellen Kampagne veröffentlicht. Was war der konkrete Auslöser?
Die selbstgefälligen Fotos in der Presse zur Vorstellung der Plakate. Wenn man uns Chemnitzern den eigenen Slogan über eine große Plakatkampage erklären muss, ist einfach etwas schief gelaufen. Davon mal abgesehen gibt es in Chemnitz andere Themen, die eigendlich an die Bürger kommuniziert werden müssen. Im Gegensatz dazu ist so eine Werbekampagne für die Stadt anscheinend die angenehmere Sache, mit welcher man sich in der Öffentlichkeit schmücken möchte.

Ihr habt das komplette Design für eure Plakate übernommen. Ist das nicht auch rechtlich schwierig (Stichwort Plagiat)? Gab es Reaktionen seitens der Werbeagentur simons+schreiber?
Offizielle Reaktionen seitens der Agentur gab es keine. Unsere Plakate sind Satire und da ist (fast) alles erlaubt.

Ist eure Plakatserie eher als inhaltliche Kritik an der offiziellen Kampagne zu verstehen oder zielt sie grundsätzlich auf die Idee von Chemnitz als „Stadt der Moderne“?
Die offizielle Kampagne ist eine gute Vorlage, um den Verantwortlichen mit den eigenen Mitteln zu erklären, warum Chemnitz seit Jahren schrumpft und immer älter wird. Da herkömmliche Methoden keine Wirkung mehr zu zeigen scheinen, haben wir diesen unkonventionellen Weg gewählt. Gegen Moderne ist ja nichts einzuwenden. Leider bezieht sich das Stadtmarketing weitestgehend auf die Errungenschaften aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts, als Chemnitz wirklich noch modern war. Die an den Haaren herbeigezogenen Beispiele aus der Gegenwart (der Geist und das Motorenwerk) halten da keinem Vergleich stand. Der traditionsreichen Vergangenheit sind sich die meisten Chemnitzer sicher bewusst. Das ist aber nicht der Grund, warum man sich entscheidet in dieser Stadt zu leben. Solange die Stadtverwaltung den Bürgern Steine in den Weg legt, die neue Wege gehen wollen, hat sie nur ein „Statt der Moderne“ verdient. Wenn schon „Stadt der Moderne“ dann ganz oder gar nicht.

Ziel und Aufgabe der CMT ist aber ein positives Stadtmarketing nach außen. Für eine solchen Zweck ist doch der Slogan „Stadt der Moderne“ eigentlich ein großer Wurf, oder?
Für uns zeugt das eher von großer Ratlosigkeit statt großem Wurf. In einem Produkt sollte auch annähernd das drin sein, was auf der Packung steht. Tagestouristen kann man so etwas vielleicht andrehen, der Chemnitzer Bürger kennt seine Stadt aber besser. Einer „Stadt mit Köpfchen“ war man wahrscheinlich nicht gewachsen.

War es der Kardinalsfehler der CMT-Kampagne, eine eher auf Außenwirkung zielende Werbung ausgerechnet zuerst intern, also in Chemnitz zu plakatieren?
Nach außen plakatiert wäre es wahrscheinlich wie andere CMT-Kampagnen der letzten Jahre spurlos an den Chemnitzern vorüber gegangen. Die Kampagne aber still und leise ohne die Beteiligung der Öffentlichkeit zu produzieren und dann zu hoffen, dass alle sagen: „Super gemacht, genau so sieht mein Chemnitz aus.“ musste einfach schief gehen.

Kritiker werfen euch vor, genau jenen kleinlichen Chemnitz- Komplex zu füttern, mit dem alles in der Stadt schlecht geredet wird. Wie steht ihr zu diesem Vorwurf?
Die Kritiker haben diesen „Komplex“ wahrscheinlich selber erfunden. Es geht darum Lösungen für die Probleme zu finden. Dazu müssen diese erstmal angesprochen werden, um eine öffentliche Willensbildung in Gang zu bringen, die der Verwaltung den Weg weist. Über Probleme hinwegzusehen oder Sachen schönzureden fördert nicht gerade die Demokratie.

Auf eurer Internetseite Chemnitz-zieht-weg.de gibt es eine rege Diskussion. Seid ihr mit den Reaktionen zufrieden?
Es gab sehr viele positive Reaktionen, aber auch Kritik hinsichtlich der Anonymität und dem alles in dieser Stadt schlecht geredet auch den Vorwurf, dass wir Chemnitz nur schlecht machen würden. Wir würden uns noch mehr Diskussion zu den eigentlichen Themen wünschen und auch eine öffentliche Reaktion seitens der Stadt über ein „das hat kreatives Potenzial“ hinaus. Vielleicht fühlt sich auch der ein oder andere Pressevertreter zu tieferen Recherchen zu den Themen ermutigt.

Was wird außer dem kurzfristigen Aufsehen von eurer Kampagne bleiben? Werdet ihr weitermachen mit solchen Guerilla-Aktionen?
Einen Denkprozess werden wir bei der einen oder dem anderen sicher angestoßen haben. Ansonsten können wir Folgeaktionen leider nicht ausschließen.

erschienen im 371 Stadtmagazin 07/2009
Interview: Lars Neuenfeld

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