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Jahrestage sind unter anderem dazu da, über das Erreichte nachzudenken und eine Bilanz zu ziehen. Nicht anders ist das beim Bildungsstreik, der sich in diesen Tagen erstmalig jährt. Am 25. November 2009 besetzten mehr als 600 Studenten der TU Chemnitz das Audimax, den größten Hörsaal der Universität. 550 von ihnen sprachen sich am selben Tag in einer Abstimmung für einen dauerhaften Bildungsstreik aus.
Eine zweite Vollversammlung am 9. Dezember mit dann nur noch 350 Anwesenden bestätigte den Streik noch einmal, bis Weihnachten hielt die Besetzung an. Das Anliegen des Streiks war – neben der Solidarisierung mit zahlreichen anderen besetzten Universitäten in Europa – die Verbesserung der Studienbedingungen an der TU Chemnitz. Die Diskussion darüber mündeten schließlich in einen Forderungskatalog an die Universitätsleitung.
Keine Forderung ist bis heute umgesetzt[nbsp][nbsp][nbsp]
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Auf den ersten Blick fällt eine Bilanz ein Jahr nach den Ereignissen enttäuschend aus. Von den insgesamt 31 Forderungen ist bis heute nahezu keine umgesetzt worden. Die umstrittene Anwesenheitspflicht wurde schon in den ersten Tagen des Streiks von der Universitätsleitung für nichtig erklärt. Eingeleitet hatte dies aber vorab bereits die TU Dresden, mit dem Streik stand diese Entscheidung nicht im Zusammenhang. Wohl eine Folge des Streiks sind die verlängerten Öffnungszeiten der Universitätsbibliothek. Diese hatte letzten Sommer eine Umfrage unter ihren Nutzern durchgeführt, seit Beginn des Wintersemesters öffnet die am stärksten genutzte Campusbibliothek I im Pegasuscenter wochentags bis 24 Uhr und Samstags bis 18 Uhr. Das entspricht nicht ganz den damals geäußerten Forderungen nach einer Rund-um-die-Uhr-Öffnung der Bibliothek, bleibt aber dennoch die Forderung, der am ehesten nachgekommen wurde.[nbsp]
Die Streikinitiatoren sehen das nicht viel anders. Marius Klein wirft einen nachdenklichen Blick auf den ausgedruckten Katalog: „Wenn ich mir die Forderungen so anschaue, haben wir davon fast nichts erreicht.“ Sein Werdegang ist symbolisch für die damaligen Streikinitiatoren. „Viele, die sich vor einem Jahr engagiert haben, haben das fortgesetzt und sind heute Fachschaftsrat- oder Studentenratsmitglieder“, berichtet Stura-Mitglied Anni Fischer. Für sie steht vor allem der ideelle Wert der Aktion im Vordergrund. Man habe etwas bewegt, die Studenten animiert sich gegen Unzulänglichkeiten zur Wehr zu setzen und eine Plattform für den Austausch von Meinungen und Ideen geschaffen. Zudem habe sich im Nachlauf des Streiks auch die Kommunikation zu Dozenten und dem Rektorat verbessert: „Damals haben wir sehr auf Konfrontation gesetzt, jetzt versuchen wir das im Diskurs zu klären.“ Das bedeutete aber auch: Weg von der Basisdemokratie, zurück in die etablierten Gremien. Ja, bekundet Anni Fischer, das sei in der Tat die einzige praktikable Lösung gewesen, quasi ein Mittelweg zwischen erneut streiken und gar nichts mehr tun. In den Gremien habe man aber seitdem für einige Veränderungen und eine neue Arbeitsweise gesorgt.
Frontalkritik funktioniert nicht
Albrecht Hummel, Prorektor für Forschung und Lehre an der TU Chemnitz, sieht den Bildungsstreik ein Jahr danach durchaus positiv: „Der Streik hat etwas bewegt.“ Das Rektorat habe die Besetzung ernst genommen, allerdings seien die aufgestellten Forderungen zu pauschal und unstrukturiert gewesen: „Meine Erfahrung: Frontalkritik funktioniert nicht. Man muss sich mit den Unzulänglichkeiten in den einzelnen Studiengängen oder sogar Lehrveranstaltungen beschäftigen.“
Im Anschluss an den Streik hat das Rektorat eine temporäre Arbeitsgruppe, der auch Studenten und Dozenten angehörten, gebildet. Diese identifizierte sechs Problembereiche, darunter die Themen Prüfungsdichte, Transparenz und Informationsfluss. Zu diesen gab es Gespräche mit Vertretern aller Fakultäten. Die Protokolle dieser Gespräche und die Ergebnisse der Arbeit der temporären Arbeitsgruppe liegen seit Juni 2010 in Form eines mehr als 150-seitigen Berichts vor. Unter dem Punkt „Verbesserungspotenziale“ fasst der Bericht 34 Probleme und mögliche Lösungsansätze zusammen. Zumeist sind das organisatorische Aspekte wie beispielsweise die Vermeidung der Überschneidung von Prüfungsterminen bei fakultätsübergreifenden Studiengängen oder die Möglichkeit auch im Sommersemester in alle Studiengänge zu immatrikulieren. Darüber hinaus wird ein Überarbeitungsbedarf bei der Modulstruktur konstatiert und ein Umdenken bei der Bewertung der Prüfungsbelastung gefordert. Insgesamt konstatiert der Bericht jedoch, „dass eine Großteil der kommunizierten Probleme, und dies betrifft auch Forderungen aus dem Bildungsstreik 2009, auf Missverständnisse, mangelnde Kommunikation bzw. Information/Transparenz [...] sowie auf Einzelfälle und/oder -personen zurückzuführen sind.“ Will sagen: Es gibt nahezu keine strukturellen Probleme.
Prozess in Gang gesetzt
Der Bericht liegt seit mittlerweile fünf Monaten vor. Viel ist seitdem nicht passiert, berichtet Stura-Mitglied Anni Fischer: „Im Moment hakt es an allen Ecken und Kanten.“ Die TU Chemnitz nimmt sie dabei aber teilweise in Schutz. Viele Probleme seien nicht allein von den Hochschulen zu lösen, sondern hätten auch mit der Bildungspolitik des Freistaates Sachsen und der Bundesregierung zu tun. Das sieht auch Prorektor Hummel so. Ihn stört vor allem die detaillierte Überregulierung von Prüfungsangelegenheiten durch das Hochschulgesetz, hier müsse es weitere Nachbesserungen geben.
Es wird also weiterhin diskutiert und getagt werden. Konkrete Ergebnisse des Bildungsstreiks sind ein Jahr danach Mangelware. Vielleicht ist es aber auch noch zu früh für eine derartige Bestandsaufnahme, vieles ist eben immer noch im Prozess. Bis dieser konkrete Ergebnisse zeitigt, muss man sich wohl damit zufrieden geben, dass der Prozess überhaupt erst einmal in Gang gesetzt worden ist. Und das ist dann wiederum wohl der Verdienst des Bildungsstreiks.
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erschienen im 371 Stadtmagazin Campus 10/12,
Text [&] Fotos: Benjamin Lummer