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Wenn das Studium zum Stress wird

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Wenn das Studium ein Hürdenlauf wäre, dann ist dies nicht nur die letzte sondern auch die höchste Hürde: die Abschlussarbeit. Im Juni stehen für viele Fächer die Examina an, die Abgabe von Diplom-, Magister- oder Bachelorarbeiten folgt für die meisten wenig später. Mit den letzten Semestern des Studiums verbinden Studenten wahrscheinlich nur ein Wort: Stress.

Drei Monate Zeit hat ein Bachelorstudent von der Anmeldung bis zur Abgabe der Abschlussarbeit. Nicht gerade viel für wissenschaftliche Recherche, Auswertung und zu Papier bringen komplexer Themen. Viele umgehen dies, indem sie viele Vorarbeiten bereits vor der Anmeldung hinter sich bringen. Sehr anstrengend sei es trotzdem gewesen, berichtet Europastudentin Johanna Kardel, die im März ihre Bachelorarbeit abgegeben hat. Nebenjobs, Abschlussarbeit, Bewerbungen schreiben – das alles unter einen Hut zu bekommen, habe ihr alles abverlangt. „Dieser Zustand war zwar auch im Studium oft nicht viel anders, aber meine Mitbewohner sagen immer, dass ich in dieser Zeit unausstehlich war.“

Sie hatte sich einen achtstündigen Arbeitstag verordnet, blieb aber aufgrund von Nebenjobs nicht selten hinter ihrem Zeitplan zurück. Einschränkungen gingen zumeist auf Kosten der Freizeit: sportliche Aktivitäten, Ausflüge und Treffen mit Freunden musste sie vermehrt mit dem Verweis auf ihre Bachelorarbeit absagen. Zur fehlenden Bewegung gesellte sich die Umstellung der Nahrungsaufnahme entsprechend dem Kriterium „Hauptsache es geht schnell“, alles in allem also eine recht ungesunde Zeit.

„Die Regenerationszeit zwischen den Mammuts ist zu kurz.“ In der Psychosozialen Beratungsstelle der TU Chemnitz ist man sich dieser Probleme bewusst, der Umgang mit gestressten Studenten gehört hier zum Alltag. Diplom-Psychologin Denise Winkler beschreibt Stress als eine „evolutionär adaptive Reaktion des Körpers auf Herausforderungen, eine physiologische Reaktion, die uns schon seit Millionen Jahren begleitet und uns hilft, Herausforderungen zu bestehen.“

Alle Körperfunktionen, die wir beispielsweise zur Flucht oder zum Kämpfen brauchen, wie die Atemsequenz und die Muskelaktivitäten, werden hochgefahren. Alles das, was wir nicht dringend brauchen, wie Schlaf oder Nahrungsmittelaufnahme, wird dagegen runtergefahren. Stress ist also nicht mehr als eine Anpassung, eine gute Sache, also kein Grund zur Sorge? Für Denise Winkler liegt das Problem auch nicht unbedingt beim Stress selbst, sondern bei der fehlenden Zeit zur Entspannung: „Früher war das in etwa so: Wenn das Mammut erlegt war, konnte der Stress wieder abgebaut werden. Heute sind die Mammuts kleiner und versteckter, das heißt der Stress ist dauerhafter, die Regenerationszeit zwischen den Mammuts ist zu kurz oder gar nicht vorhanden.“

Das kann Alexander Kraus wahrscheinlich ganz gut nachvollziehen. Der Vater einer achtjährigen Tochter befindet sich gerade am Ende seines Maschinenbaustudiums. Für seine Diplomarbeit stehen ihm ab dem Tag der Anmeldung vier Monate zur Verfügung, Ende Mai ist Abgabetermin.

Am Anfang hat er etwa acht Stunden täglich an der Arbeit gesessen. Mittlerweile hätten sich viele Probleme ergeben, die Konstruktion nehme mehr Zeit in Anspruch als gedacht. Von früh um sechs bis abends um zehn schreibt er an der Diplomarbeit, zwischendurch kümmert er sich um seine Tochter. Zeit für Freizeitaktivitäten bleibt da kaum, vor allem im sportlichen Bereich musste sich der begeisterte Sportler stark einschränken. Er fühle sich zuweilen „etwas ausgebrannt“, die Motivation habe nachgelassen.

Wenn die Aufgabe zu groß erscheint
Familie und Nebenjob – es sind häufig auch die Rahmenbedingungen, die aus einer Herausforderung einen stressigen Zustand werden lassen, erklärt Diplom-Psychologin Stefanie Fuchs von der Psychosozialen Beratungsstelle der Universität. An sich gebe es keine objektiven Stressfaktoren, es komme immer auf den Zusammenhang an. Außerdem sei die Physiologie nur die eine Komponente, die Bewertung sei ebenso wichtig: „Wenn ich das, was mit mir passiert als bewältigbar und positiv erlebe, dann ist das natürlich weniger krankmachend.“ So kommen viele Studenten in die Beratung, weil sie vor schwierigen Prüfungen stehen, die Situation also nicht für bewältigbar halten. In so einem Fall versucht man in der Beratungsstelle vor allem Maßstäbe zu klären, Lern- und Zeitpläne aufzustellen und Etappenziele zu formulieren.

Andrea MacLeod hat für sich einen festen Zeitplan vereinbart. Täglich eine Seite will sie schreiben, bisher hat sie sich nach eigenen Angaben auch überwiegend daran gehalten. Als Magisterstudentin (Amerikanistik/Anglistik, Philosophie und Angewandte Sprachwissenschaft) stehen ihr sechs Monate von der Anmeldung bis zur Abgabe der Magisterarbeit zur Verfügung. Sie habe allerdings schon lange vorher mit der Recherche begonnen und sich so etwas entlastet. Im März ist sie vom Sonnenberg ins Wohnheim auf dem Campus gezogen, das erspare ihr Zeit auf dem Weg in die Bibliothek. Andrea arbeitet täglich bis etwa 19 Uhr an ihrer Magisterarbeit, Ende Juli will sie fertig sein. Gestresst fühlt sie sich nicht, kulturelle Aktivitäten und Sport gönnt sie sich nach wie vor. Genau dieses Sich-etwas-gönnen ist für Diplompsychologin Stefanie Fuchs ein ganz wichtiger Punkt. Sie rät jedem zur Einführung von Phasen, in denen man sich nur um sich selbst oder Freunde und Familie kümmert, Selbstfürsorge nennt sie das.

Stress erhöht Studienabbruchzahlen
Laut einer aktuellen Studie der in Hannover ansässigen Hochschul Informations System GmbH (HIS), einer gemeinnützigen Gesellschaft, die von Bund und Ländern finanziert wird, hat sich die Motivation für einen Studienabbruch zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2008 geändert. Spielten früher familiäre Gründe, Geldprobleme oder berufliche Neuorientierung eine bedeutende Rolle, so war für die Abbrecher des Jahres 2008 speziell ein Faktor entscheidend: Leistungsprobleme und Überforderung.

Besonders für Bachelorstudenten sei dies relevant gewesen, fanden die Autoren der Studie heraus: „In den Bachelorstudiengängen kommt es häufiger zum Studienabbruch aus Gründen der Überforderung.“ Ein Befund, den die Psychologen der Beratungsstelle an der TU Chemnitz teilweise bestätigen. Ob die tatsächlichen Belastungen zugenommen haben, könne man zwar nicht ermitteln, erklärt Diplom-Psychologin Cynthia Heller. Aber: Das subjektive Stressempfinden ist höher als früher. Da nicht für alle ein Masterplatz zur Verfügung stehe, habe der gefühlte Leistungsdruck zugenommen.

Prüfungen und Abschlussarbeiten, daneben Familie und Nebenjobs – für einige Studenten ist Stress kein seltenes Phänomen, sondern ein Dauerzustand. Da bleibt ihnen nur noch der Trost, dass es ohne Stress eigentlich auch nicht geht, meint zumindest Cynthia Heller: „Man kann gar nicht ohne positiven Stress leben, das treibt einen auch an. Unterforderung ist genauso schlimm.“

erschienen im Heft: 06/2010,
Text und Foto: Benjamin Lummer

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